Moral und Beschämung : Unterwegs zur Anomie

(Erwei­terte Fas­sung des Tage­blatt Arti­kels vom 16. Okto­ber 2020)

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Als solche gehört die Pan­de­mie zu der Gat­tung von Risi­ken und Katas­tro­phen, von denen Ulrich Beck schon vor Jahr­zehn­ten fes­thielt, dass sie als unsicht­bare und nicht direkt erfahr­bare Erei­gnisse der Wis­sen­schaft bedür­fen, um erst als Gegens­tand des Bewusst­seins, der Gefah­ren­wahr­neh­mung und der Kom­mu­ni­ka­tion kons­truiert wer­den zu können.

Aber läng­st bedarf das pan­de­mische Kons­trukt nicht mehr nur der Wis­sen­schaft, um Objekt des Bewusst­seins zu wer­den. Mehr noch als durch Wis­sen­schaft, die den meis­ten Dis­kus­sionss­teil­neh­mern über eine feti­schi­sierte Wis­sen­schafts­fan­ta­sie1 hinaus kaum nach­voll­zieh­bar bleibt, wird die Pan­de­mie heute von den tra­di­tio­nel­len und den sozia­len Medien, vom all­ge­genwär­ti­gen Ges­präch, von Debat­ten, Kund­ge­bun­gen, pri­va­ten Pod­casts und Videos her­ges­tellt, und in größ­tem Dur­chei­nan­der an das Bewusst­sein gebracht : Die epi­de­mio­lo­gische Pan­de­mie wurde fol­glich zur Kom­mu­ni­ka­tions­pan­de­mie, bei der wis­sen­schaft­liche Kons­truk­tion nur noch einen Neben­schau­platz darstellt.

Die Kom­mu­ni­ka­tions­pan­de­mie bewegte sich zuse­hends in Rich­tung einer durch­ge­hen­den Mora­li­sie­rung der Dis­kurse und der all­ge­mei­nen Rhe­to­rik. Fra­gen der Medi­zin und Wis­sen­schaft, Pro­bleme der Epi­de­mio­lo­gie und Sta­tis­tik wur­den mit Aufru­fen zur Verant­wor­tung, zur Moral zuerst ver­mi­scht, dann schließ­lich fast durch diese ersetzt.

Eine solche Mora­li­sie­rung, obwohl sie wohl zur all­ge­mei­nen Mobi­li­sie­rung von Vor­sichts­maß­nah­men bei­tra­gen kann, biegt jedoch nicht zu unter­schät­zende Gefah­ren und bedenk­liche Kon­se­quen­zen. In die­ser Hin­sicht scheint eine Wie­de­rauf­nahme von Nik­las Luh­manns Reflexio­nen zur Moral und Ethik aus der Pers­pek­tive der Sozio­lo­gie sinnvoll. 

Der Sozio­loge und Gesell­schafts­theo­re­ti­ker Luh­mann begreift Moral als eine beson­dere Art der Kom­mu­ni­ka­tion die „men­schliche Ach­tung oder Mis­sach­tung zum Aus­druck bringt“2. Direkt drückt Moral diese, so Luh­mann, durch Lob und Tadel aus, indi­rekt durch den Hin­weis auf die Bedin­gun­gen unter denen Hand­lun­gen und Ansich­ten ach­tens­wert oder verach­tens­wert sind. 

Der Unter­schied von Ach­tung und Mis­sach­tung schlägt sich auch im Unter­schied von Ego und Alter, von Eigen­gruppe und Fremd­gruppe nie­der. Die Dif­fe­renz zwi­schen Ach­tung und Verach­tung über­trägt sich auf die Dif­fe­renz von Ego und Alter. Ach­tung kann dazu dienen, die Sel­big­keit, die Zugehö­rig­keit mit­zu­tei­len – das „Wir-Gefühl“ der Eigen­gruppe – und Abgren­zung zur Fremd­gruppe erfor­dern. Dort, wo Moral soziale Bin­dung schafft, schafft sie glei­ch­zei­tig Kon­flikt, Aus­schluss und Auflö­sung von gesell­schaft­li­chen Zusammenhängen. 

Moral, könnte man mit Luh­mann fests­tel­len, hat etwas zwei­fach Patho­lo­gisches. Da Moral nur in Situa­tio­nen erscheint, wo „es bren­ze­lig wird“, tritt sie als Symp­tom von sozia­len Uns­tim­mig­kei­ten und Kon­flik­ten auf. Wenn die Kom­mu­ni­ka­tion der sozia­len Funk­tions­sys­teme oder Fel­der gestört wird, kann Moral zwar als feldü­ber­grei­fen­der Code in Kraft tre­ten, tut dies aber mit zusätz­lich patho­ge­ner Wir­kung. Denn Moral ver­mag es nicht die gestörte Kom­mu­ni­ka­tion wie­de­rher­zus­tel­len, da sie vor allem zur Gene­ra­li­sie­rung von Kon­flik­ten führt. 

Der Unter­schied zwi­schen Ach­tung und Mis­sach­tung repro­du­ziert sym­bo­lisch den Unter­schied zwi­schen Ink­lu­sion und Exk­lu­sion. Da aber Exk­lu­sion nur als Tötungs­hand­lung die aus­ges­chlos­se­nen Kom­mu­ni­ka­tions­teil­neh­mer wirk­lich eli­mi­nie­ren kann, bleibt Mis­sach­tung Ersatz einer gesell­schaft­li­chen Unmö­gli­ch­keit. Dieses Nicht-gelin­gen bedingt „die Hef­tig­keit, die Zor­nig­keit, die kämp­fe­rische Auf­sprei­zung des mora­li­schen Urteils“:

Moral ist ein ris­kantes Unter­neh­men. Wer mora­lisch argu­men­tiert, lässt sich auf ein Risi­ko ein und wird bei Widers­tand sich leicht in der Lage fin­den, nach stär­ke­ren Mit­teln suchen zu müs­sen oder an Selbs­tach­tung ein­zubüßen. Moral hat daher, soweit sie sich nicht im Selbst­verständ­li­chen aufhält und hier fast unnö­tig ist, eine Ten­denz, Streit zu erzeu­gen und den Streit dann zu ver­schär­fen. Moral ist pole­mo­ge­ner Natur.3

Wird der mora­lische Streit durch die Mas­sen- und sozia­len Medien poten­ziert, verall­ge­mei­nert sich die auch die durch ihn bedingte gesell­schaft­liche Pola­ri­sie­rung. Damit zer­reißt die Moral mögli­cher­weise auf lange Zeit das, was sie eigent­lich zusam­men­brin­gen sollte : einen zusam­menhän­gen­den, verhält­nismäßi­gen Umgang mit einer geteil­ten und schwer ein­schätz­ba­ren Gefahr. 

Von die­ser sozio­lo­gi­schen War­nung nicht mit­ge­dacht sind die psy­cho­lo­gi­schen Aus­wir­kun­gen der mora­li­schen Kom­mu­ni­ka­tions­form. Psy­cho­lo­gisch ist die pole­mo­gene, die streit erzeu­gende Natur der Moral, durch ihre von Mecha­nis­men der Ink­lu­sion und Exk­lu­sion geprägte Kom­mu­ni­ka­tion, ihrer­seits stark kon­flikt­ge­la­den. Ach­tung und Mis­sach­tung, Aner­ken­nung, Auf­nahme und Zus­tim­mung auf der einen, Ableh­nung, Krän­kung und Ernie­dri­gung auf der ande­ren Seite lösen starke psy­chische Reak­tio­nen bei Betrof­fe­nen aus, die auf der psy­chi­schen Ebene die gesell­schaft­liche Verall­ge­mei­ne­rung des Kon­flikts erklären.

Weil Mis­sach­tung und soziale Aus­gren­zung immer die ganze Per­son betref­fen, wie es Luh­mann rich­tig bemerkte, bewirkt mora­lisches Urteil not­wen­di­ger­weise Scham beim Betrof­fe­nen. Im Gegen­satz zum Gewis­sens­kon­flikt wirkt Scham immer durchgän­gig : Sie umfasst die ganze Persön­li­ch­keit und umschließt die eigene Iden­tität. Das Gefühl der Scham ist fol­glich auch eines des Aus­ge­lie­fert­seins und des Kon­troll­ver­lusts. Scham erzeugt beim Betrof­fe­nen ang­st­ge­la­dene Ohn­macht und schmerz­hafte Ernie­dri­gung. Die Scham, die aus der Bloßs­tel­lung der mora­li­schen Abwer­tung ents­teht, treibt den Betrof­fe­nen in den Rückzug. 


Inter­es­san­ter­weise besitzt das Wort „Scham“ den glei­chen ety­mo­lo­gi­schen Urs­prung wie das Wort „Haut“: beide bezie­hen sich auf das Bede­ckende und Verhül­lende.4 Daraus erge­ben sich zwei kul­tur­ges­chicht­liche Vors­tel­lun­gen der Haut : die Haut als Hülle, aber auch die Haut als „Ich“, die sich auch in der Scha­mang­st aus­drü­cken. Mit dem Scham­gefühl wird die schüt­zende Grenze zur Außen­welt auf­ge­ho­ben und die sich schä­mende Per­son in eine psy­chische Totens­tarre vor dem urtei­len­den Blick der Ande­ren ver­setzt. Scham erzeugt Reak­tio­nen des Rück­zugs, des Vers­te­ckens, Verhül­lens und Mas­kie­rens als Reak­tion auf das Gefühl der Auflö­sung der Ich-Grenze. Es verhält sich bei der Scham so als könnte der Blick des ande­ren unauf­halt­sam bis ins Innerste des Selbst hineinwirken. 

In der Scham ver­wandle ich mich in ein Nichts : Ich erleide einen sym­bo­li­schen Tod.5 Die Scham erzeugt deshalb nicht nur einen Objekt­ver­lust – die Lösung der Bezie­hung zu den Ande­ren –, son­dern auch einen unver­meid­li­chen Selbst­ver­lust. Der sym­bo­lische Tod der Scham ents­pricht der Objek­ti­vie­rung der Per­son : Der Bes­chämte ist nicht mehr Sub­jekt, son­dern wird zum widers­tand­slo­sen Objekt des urtei­len­den Blicks des Ande­ren. In l’Être et le néant schreibt J.-P. Sartre in die­ser Hinsicht :

Et par l’apparition même d’autrui, je suis mis en mesure de por­ter un juge­ment sur moi-même comme sur un objet, car c’est comme objet que j’apparais à autrui. Mais pour­tant cet objet appa­ru à autrui, ce n’est pas une vaine image dans l’esprit d’un autre. Cette image en effet serait entiè­re­ment impu­table à autrui et ne sau­rait me « tou­cher ». Je pour­rais res­sen­tir de l’agacement, de la colère en face d’elle […] mais je ne sau­rais être atteint jusqu’aux moelles : la honte est, par nature, recon­nais­sance. Je recon­nais que je suis comme autrui me voit.6

Mit die­ser Objek­ti­vie­rung im Blick des Ande­ren wird der Bes­chämte genau dort ver­din­glicht wo eine Bezie­hung möglich sein sollte. Damit wird jede Mögli­ch­keit einer Aner­ken­nung abge­bro­chen. Mögli­cher­weise wide­rholt das Gefühl „vom Erd­bo­den zu ver­sch­win­den“ das erlebte Ver­sch­win­den der Bin­dung zum ande­ren im all­ge­mei­nen, die gefühlte Tren­nung von der Gemein­schaft. Der Bes­chämte wird aus der Gemein­schaft aus­ges­chlos­sen und „fal­len-gelas­sen“. Der bru­tale Abbruch der kons­ti­tu­ti­ven Inter­sub­jek­ti­vität führt not­wen­di­ger­weise zu einer tie­fen psy­chi­schen Desorganisation. 

Das uner­trä­gliche Gefühl der Scham ruft deshalb auch unwei­ger­lich starke Abweh­rak­tio­nen beim Betrof­fe­nen her­vor. In Die Maske der Scham7 bes­chreibt der Psy­cho­ana­ly­ti­ker Leon Wurm­ser eine Reihe von typi­schen Reak­tio­nen auf das Scha­mer­leb­nis. Drei der beson­ders häu­fi­gen von der Scham beding­ten Reak­tio­nen sind die Umkeh­rung, der Trotz und der Zorn sowie der Neid : 

– „Den Spieß herum­dre­hen“. Wenn Scham das Gefühl bedingt ein Narr zu sein und der Verach­tung zu unter­lie­gen, bes­teht eine gän­gige Abwehr darin, das pas­siv Erlebte in eine aktive Gegen­hal­tung umzu­keh­ren : Der Gedemü­tigte demü­tigt, der Verach­tete verach­tet, der Ernie­drigte ernie­drigt. Die Umkeh­rung ist hier eine der Akti­vität und der Pas­si­vität. Der Bes­chämte ver­mag es aus sei­ner Ohn­macht und sei­ner pas­si­ven Ang­st heraus­zu­kom­men, indem er selbst aktiv bes­chämt und ernie­drigt. Der Bes­chämte oder der sich vor der Scham äng­sti­gende nimmt so die Hal­tung der Arro­ganz und Übe­rhe­bli­ch­keit an, und verur­teilt und bes­chämt Andere, um nicht selbst der Scha­mang­st zu erlie­gen. In die­ser Reak­tion ist die Ten­denz zur aggres­si­ven Eska­la­tion offen­sicht­lich. Wer den „Spieß herum­dreht“ pro­vo­ziert Eskalation. 

– „Trotz und Zorn“ stel­len auch eine Art der Umkeh­rung des Affekts der erlit­te­nen Bes­chä­mung dar. 

Trotz stammt aus dem Ver­such die eigene Inte­grität zu bewah­ren und gegen den urtei­len­den Aggres­sor auf­zu­be­geh­ren. Somit erlaubt es der Trotz auch etwas von der eige­nen Auto­no­mie, die durch die Scham von Ver­sch­win­den bedroht ist, zu bewah­ren. Wie Arro­ganz kann Trotz sehr gut als ratio­na­li­sierte, daue­rhafte Abwehrs­tel­lung dienen und so letz­tend­lich zum defen­si­ven Cha­rak­ter­zug wer­den. Die eska­lie­rende Wir­kung des Trotzes ist zwar ungleich schwä­cher als die der defen­si­ven Bes­chä­mung. Aber der Trotz ver­mag es trotz­dem nicht die Kom­mu­ni­ka­tion aus der Logik von Ach­tung und Mis­sach­tung zu befreien. 

Impul­si­ver und weni­ger reflek­tiert ist die Ant­wort der Wut und des Zorns. Wut und Zorn ents­te­hen jedoch nicht so sehr aus einer Situa­tion der schon erlit­te­nen Scham, als aus der Ang­st vor einer bevors­te­hen­den Scham. Trotz und Zorn funk­tio­nie­ren als psy­chi­scher ‚Prä­ven­tiv­krieg‘, bei dem Ande­ren ange­grif­fen wer­den, auf die Gefahr hin selbst Opfer eines Angriffes zu sein. 

– Das Scha­mer­leb­nis gibt auch regelmäßig Anlass zu Neid. Neid ents­teht aus dem Gefühl der Unglei­ch­heit, der eige­nen Min­der­wer­tig­keit, Unzulän­gli­ch­keit oder Man­gel­haf­tig­keit. Diese wer­den vom Betrof­fe­nen als unge­recht emp­fun­den und ent­fa­chen somit ein starkes Bedürf­nis nach ‚aus­glei­chen­der Gerechtigkeit‘. 

Wurm­ser bringt das Gefühl des Neids auf eine eben­so ein­fache wie aus­drucks­volle For­mel : “Ich möchte an posi­ti­ven Eigen­schaf­ten oder Besitztü­mern so reich sein wie der andere, damit ich geliebt, bewun­dert, respek­tiert werde und mäch­tig bin.“ Der Neid möchte also wie­de­rhers­tel­len, was die Scham nimmt. 

Aus sol­chen psy­chi­schen Abwehr­reak­tio­nen wird noch bes­ser ersicht­lich wie rich­tig Luh­mann liegt, wenn er denkt, dass Moral zur Verall­ge­mei­ne­rung der Kon­flikte führt und Gewalt vor­be­rei­tet. Mis­sach­tung und Bes­chä­mung sind das Gegen­teil einer Aner­ken­nung, ohne die es kei­nen Dia­log geben kann. Die Bes­chä­mung der mora­li­schen Mis­sach­tung bewirkt einen tie­fen Bruch sowohl im zwi­schen­men­schli­chen Ver­trauen wie in der inne­ren Siche­rheit des Bes­chäm­ten.8 Die­ser Bruch rührt an die psy­cho­lo­gi­schen Grund­vo­raus­set­zun­gen des sozia­len Gefüges. 

In Kampf um Aner­ken­nung schreibt Axel Honneth :

[Die] Repro­duk­tion des gesell­schaft­li­chen Lebens voll­zieht sich unter dem Impe­ra­tiv einer rezi­pro­ken Aner­ken­nung, weil die Sub­jekte zu einem prak­ti­schen Selbst­verständ­nis nur gelan­gen kön­nen, wenn sie sich aus der nor­ma­ti­ven Pers­pek­tive ihrer Inter­ak­tions­part­ner als deren soziale Adres­sa­ten zu begrei­fen ler­nen.9

Genau an die­sen bei­den neu­ral­gi­schen Punk­ten des gesell­schaft­li­chen Zusam­men­le­bens – an der Aner­ken­nung des Ande­ren und dem damit ver­bun­de­nen Selbst­verständ­nis – wir­ken die Gifte der Moral und der Verach­tung. Sie gehö­ren zu den „sozia­len und kogni­ti­ven Ein­schrän­kun­gen“ die den gesell­schaft­li­chen Inter­ak­tio­nen unü­ber­wind­bare Schran­ken aufer­le­gen.10 Mora­li­sie­rung und Bes­chä­mung nagen deshalb an den sozia­len Bin­de­kräf­ten, die in einer radi­kal indi­vi­dua­li­sier­ten Gesell­schaft ohne­hin als äußerst ver­letz­lich gel­ten dür­fen. Nicht zu Unrecht erin­nert Hon­neth in die­ser Hin­sicht an Dur­kheims Ana­ly­sen der gesell­schaft­li­chen Ano­mie. Die Verall­ge­mei­ne­rung des Kon­flikts bedeu­tet beson­ders in Kri­sen­zei­ten die wohl ungüns­tig­ste Ent­wi­ck­lung des Zusammenlebens. 

Wenn die Gesell­schaft ohne­hin nicht mehr über mora­lische Kom­mu­ni­ka­tion inte­griert wer­den kann, dann fällt der Ethik, als Reflexions­theo­rie der Moral, die Auf­gabe zu „den Anwen­dung­sbe­reich der Moral zu limi­tie­ren“11. Die drin­gend­ste Auf­gabe der Ethik bestünde somit heute wie­der darin, „vor der Moral zu warnen“. 


  1. Zu unter­schei­den wäre eine Wis­sen­schaft als Ort von unum­stöß­li­chen und unvergän­gli­chen Wah­rhei­ten, die sich als Ersatz für reli­giöse Offen­ba­rung anbie­tet, und eine Wis­sen­schaft als gesell­schaft­lich ins­ti­tu­tio­na­li­sier­ter Pro­zess zur Pro­duk­tion von wie­der­leg­ba­ren und somit befris­te­ten Erkennt­nis­sen. Zum Fetisch wird Wis­sen­schaft dann, wenn die als Wah­rheit über­zeich­ne­ten Erkennt­nisse los­gelöst vom Erkennt­nis­pro­zess ein Eigen­da­sein anneh­men, das jegli­cher Kri­tik spot­tet und den „des­po­ti­schen Zug“ der tota­litä­ren Rhe­to­rik anneh­men.
  2. Luh­mann, N. (2016). Die Moral der Gesell­schaft. Suhr­kamp, S. 273
  3. Luh­mann, N. (2016). Die Moral der Gesell­schaft. Suhr­kamp, S. 280.
  4. Clau­dia Ben­thien zufolge stam­men „Scham“ und „Haut“ vom sel­ben indo­ger­ma­ni­schen Stamm ‹kam›, ‹kem› (ver­de­cken, ver­schleiern) und der auf ihn zurück­ge­hen­den Wur­zel ‹skam›, ‹skem› ab. Deshalb ist das Sich-Schä­men auch ety­mo­lo­gisch mit dem Sich-Ver­ber­gen ver­bun­den. Cf. Ben­thien, C. (1999). Haut : Lite­ra­tur­ges­chichte – Kör­per­bil­der – Grenz­dis­kurse. Rowohlt Taschen­buch Ver­lag, S. 116.
  5. „Die Kon­zen­tra­tion auf die Trenn­wand von Innen und Außen ver­wan­delt den Kör­per in eine sta­tua­rische Figur, nähert Scham einem ‚sym­bo­li­schen Tod‘, den Tots­tell­re­flexen bei Tie­ren zu ver­glei­chen.“ (Leh­mann, H.-T.: „Das Welt­thea­ter der Scham. Dreißig Annä­he­run­gen an den Ent­zug der Dars­tel­lung“, in : Ders., Das poli­tische Schrei­ben. Essays zu Thea­ter­tex­ten, Thea­ter der Zeit, Recher­chen 12, Ber­lin 2002.
  6. J‑P. Sartre, L’être et le néant. (1943). Gal­li­mard, coll. « Tel » (1976), p. 260
  7. Wurm­ser, op. cit.
  8. Tie­de­mann, J. L. (2008). Die inter­sub­jek­tive Natur der Scham. Forum der Psy­cho­ana­lyse, 24(3), S. 247.
  9. Hon­neth, A. (1994). Kampf um Aner­ken­nung : Zur mora­li­schen Gram­ma­tik sozia­ler Kon­flikte. Suhr­kamp Ver­lag.
  10. Cf. Hon­neth, A. (1994). Die soziale Dyna­mik von Mißach­tung : Zur Orts­bes­tim­mung einer kri­ti­schen Gesell­schafts­theo­rie. Levia­than, 22, 78‑93.
  11. Luh­mann, op. cit., S. 266