Die Politik der Angst

(Erwei­terte Fas­sung des Tage­blatt Arti­kels vom 2. April 2020*)

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„Der Schre­cken des Natur­zus­tandes treibt die ang­sterfüll­ten Indi­vi­duen zusam­men ; ihre Ang­st stei­gert sich aufs äußerste, ein Licht­funke der ratio blitzt auf – und plötz­lich steht vor uns der neue Gott. […] Der Levia­than wurde daher zu nichts ande­rem als zu einer großen Maschine, zu einem rie­sen­haf­ten Mecha­nis­mus im Dienste der Siche­rung des dies­sei­ti­gen phy­si­schen Daseins der von ihm beherr­sch­ten und bes­chütz­ten Men­schen.“ (Carl Schmitt. Der Levia­than in der Staats­lehre des Tho­mas Hobbes. 1938)

Für die frü­hen Den­ker der moder­nen Ver­trag­stheo­rie sollte die poli­tische Gesell­schafts­form der Demo­kra­tie als Garan­tie persön­li­cher Siche­rheit aus dem frei­willi­gen Zusam­men­schluss von vor­ran­gig selbs­tin­te­res­sier­ten Indi­vi­duen fun­gie­ren. Die teil­weise Auf­gabe dieses Selbs­tin­te­resses wurde inso­fern als ratio­na­ler Kom­pro­miss des Selbs­tin­te­resses selbst begrif­fen. In der glei­chen Logik war es denk­bar, dass der Staat, der große Mecha­nis­mus im Dienst des Schutzes des Selbs­tin­te­resses, in Aus­nah­me­zustän­den die­sen Kom­pro­miss in Rich­tung pro pro­tec­tione oboen­dien­tia zuneh­mend belas­ten. Für die Verord­nung­streue muss der Levia­than dann auch selbst zur Quelle der Ang­st im Dienst der Siche­rheit werden.

Poli­tisch ist die Aus­nah­me­si­tua­tion „die Stunde der Exe­ku­tive“, psy­cho­lo­gisch wird sie zur Bühne der cha­ris­ma­ti­schen Füh­rer. Cha­ris­ma­tisch ist der­je­nige, nach Max Webers bekann­ter For­mu­lie­rung, der „als mit nicht jedem ande­ren zugän­gli­chen Kräf­ten oder Eigen­schaf­ten oder als gott­ge­sandt oder als vor­bild­lich und deshalb als Füh­rer gewer­tet wird“ (M. Weber, Wirt­schaft und Gesell­schaft). Damit wird die Aus­nah­me­si­tua­tion auch bevor­zugt zur Stunde der Dema­go­gen, die es vermö­gen die indi­vi­duel­len Äng­ste an einem gemein­sa­men Bild vom Frem­den, vom Feind oder von geteil­ter Gefahr festzumachen.

In einem kur­zen Blog­bei­trag weist der ita­lie­nische Phi­lo­soph Ric­car­do Man­zot­ti zurecht darauf hin, dass Exper­ten in der heu­ti­gen Krise weni­ger nach den Über­tra­gung­sme­cha­nis­men von Viren gefragt wer­den als nach Verhal­ten­san­lei­tun­gen. Der Wis­sens­trans­fer mit dem Wis­sen­schaft­ler zu einem verant­wor­tungs­vol­len und auf­geklär­ten Umgang mit der bedroh­li­chen Situa­tion bei­tra­gen könn­ten, weicht gemein­hin dem Bedürf­nis von Regeln und Richt­li­nien, von Ver­bo­ten und Stra­fen. Dieses Bedürf­nis ents­pricht umge­kehrt der poli­ti­schen und media­len Mobi­li­sie­rung von Ang­st, Scham und Schuld. Der Eifer mit dem sich die ver­schie­dens­ten Wis­sen­schaft­ler, bevor­zugt auch in Luxem­burg, in öffent­li­chen Medien mit solch persön­li­chem Sou­verä­nitätss­tre­ben her­vor­tun zeigt von einem tie­fen, wenn auch nicht bewuss­ten Verständ­nis von real­po­li­ti­scher Praxis.

Wal­ter Lipp­mann, neben Edward Ber­nays einer der über­zeu­gend­sten zeit­genös­si­schen Nach­fol­ger Machia­vel­lis, bes­chrieb seine Erfah­run­gen mit der Infor­ma­tions­ma­ni­pu­la­tion und der auf­kom­men­den Bewe­gung Beni­to Mus­so­li­nis fol­gen­der­weise : Der demo­kra­tische Staatsbür­ger emp­fin­det sich als „ein tau­ber Zuschauer in der hin­te­ren Reihe“, der zwar gerne die Mys­te­rien der Poli­tik verstünde, aber es dann doch nicht fer­tig­bringt, dabei nicht ein­zu­schla­fen. (W. Lipp­mann, Die ima­ginäre Öffent­li­ch­keit)

Rous­seaus Rät­sel des „Gemein­willens“ oder Hegels Phä­no­men des objek­ti­ven Geistes lässt sich, so Lipp­mann, jen­seits poli­ti­scher Meta­phy­sik leicht erklä­ren. Demo­kra­tien set­zen sich aus zwei Arten von Per­so­nen zusam­men : den zuschauen­den Bür­ger und den agie­ren­den Diri­gen­ten. Die ers­te­ren haben zwi­schen den Wahl­ter­mi­nen nur ein vages, desin­te­res­siertes Verständ­nis der Hand­lun­gen der poli­ti­schen Ent­schei­der. Und die letz­te­ren wis­sen, dass erst, wenn das „vage und ver­wir­rende Dur­chei­nan­der“ der ange­bli­chen all­ge­mei­nen Mei­nung „kana­li­siert, kom­pri­miert und verein­heit­licht“ wor­den ist, das Volk in die rich­tige Rich­tung gelenkt wer­den kann.

Wie Ber­nays gehörte Lipp­mann vor­ran­gig zu den kogni­ti­ven Volks­len­kern. Es ging ihm darum zu vers­te­hen, wie in Demo­kra­tien Mei­nun­gen und Verhal­ten dank eines ges­chick­ten Umgangs mit Infor­ma­tio­nen in Eink­lang mit den Absich­ten und Vorha­ben der poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Füh­rer – heute würde man wohl bevor­zugt auf das Mana­ger- und Unter­neh­me­re­thos hin­wei­sen – gebracht wer­den kann. Wie ihre Vor­den­ker aus der Renais­sance, igno­rier­ten Lipp­man und Ber­nays aber auch nie die Macht der poli­ti­schen Gefühle. Da poli­tisches Verständ­nis und Selbst­den­ken sowie­so zu kom­plex und zu schwie­rig sind, ver­mag es der gute Volksfüh­rer auch auf gefühls­ge­la­dene Sym­bole zurü­ck­zu­grei­fen. Denn Gefühle sind nicht so spe­zi­fisch wie Gedan­ken. Sie vermö­gen oft bes­ser als Ideen und Ideo­lo­gien das Dur­chei­nan­der zu ord­nen und dann in die gewün­schte Rich­tung zu lenken.

Nun könn­ten Kri­ti­ker solche Rat­schläge als Legi­ti­mie­rung inter­es­sier­ter Volks­len­kung sehen. Die Kri­tik der Mei­nung­sma­ni­pu­la­tion ver­liert jedoch jeden real­po­li­ti­schen Boden, wenn man gewahr wird, dass die Öffent­li­ch­keit sich selbst nach Füh­rung sehnt. Selbst­verständ­lich war diese Mögli­ch­keit auch den idea­lis­ti­schen Aufklä­rern, den Gegnern der Real­po­li­tik, nicht ent­gan­gen : „Faul­heit, Fei­gheit und Bequem­li­ch­keit“, so das mora­li­sie­rende Urteil Kants, „sind die Ursa­chen, warum ein so großer Teil der Men­schen, nach­dem sie die Natur läng­st von frem­der Lei­tung frei­ges­pro­chen […] den­noch gerne zeit­le­bens unmün­dig bleiben“.

Wäh­rend Faul­heit und Fei­gheit sich jedoch für poli­tische Apa­thie dur­chaus eignen, schei­nen sie für die aktive Volks­len­kung weni­ger inter­es­sant als Gefühle wie Ang­st und Hass. Diese Erkennt­nis schien grund­le­gend für Tho­mas Hobbes Theo­rie der moder­nen Monar­chie. Im Gegen­satz zur deut­schen Ver­nunfts­mo­ral sah der englische Aufklä­rer die Bür­ger eines Staates nicht durch die Teil­habe an einer all­ge­mei­nen Ver­nunft geeint, son­dern durch die Ang­st vor dem Tod. Erst aus der Tode­sang­st, aus der unbes­timm­ten Ang­st vor den ande­ren Men­schen und vor der uner­kann­ten und unvers­tan­de­nen Natur heraus verei­nen sich die Scha­ren und Mas­sen der Indi­vi­duen unter der Allein­herr­schaft eines Sou­veräns. Das „Gewalt­mo­no­pol“ des Staates das sich in der Form des Sou­veräns dars­tellt, ist somit auch immer zugleich ein Angstmonopol. 

Eine der poli­ti­schen Grund­funk­tio­nen des Sou­veräns (des Staates) bes­teht dem­nach darin, den unbes­timm­ten Äng­sten einen zusam­menhän­gen­den Inhalt zu geben. Der Monarch, die­ser „ster­bliche Gott“, über­nimmt den tra­di­tio­nell poli­ti­schen Auf­trag des Gottes der Reli­gion, d. h. die Funk­tion der ima­ginä­ren Objekt­fin­dung und fol­glich der Verein­heit­li­chung der Ang­st. Das Gemein­gut wird erst möglich durch die Gemei­nang­st, die der Sou­verän nicht nur verkör­pert, son­dern auch aktiv gestaltet. 

Gemein­same poli­tische Ziele kön­nen dann am bes­ten erreicht wer­den, wenn es der Sou­verän ver­mag, die Ang­st sei­ner Sub­jekte zu kon­trol­lie­ren und zu steuern. Hier deu­tet die „real­po­li­tisch ent­zau­berte“ Poli­tik schon auf die Stel­lung hin, die Wis­sen­schaft, For­schung und Tech­nik im moder­nen Staat ein­neh­men wer­den : „Die Inge­nieure der rich­ti­gen Ord­nung kön­nen von den Kate­go­rien sit­tli­chen Umgangs abse­hen und sich auf die Kons­truk­tion der Umstände bes­chrän­ken, unter denen die Men­schen wie Natu­rob­jekte zu einem kal­ku­lier­ba­ren Verhal­ten genö­tigt sind.“ (J. Haber­mas : Theo­rie und Praxis)

Nach dem 2. Welt­krieg inter­es­sierte sich der Poli­to­loge und Jurist Franz Neu­mann aus der Pers­pek­tive einer kri­ti­schen poli­ti­schen Psy­cho­lo­gie für den Zusam­men­hang von Ang­st und Poli­tik. Ang­st, so Neu­mann, behin­dert die Ent­schei­dung­sfrei­heit : nur ein ang­st­freier Mensch kann sich frei ent­schei­den. Damit erscheint Ang­st von vor­ne­he­rein als anti­the­tisch zur libe­ra­len Demokratie. 

Nun muss man jedoch nach Neu­mann, hier ganz auf der Freud’schen Linie, zwei große Arten der Ang­st unter­schei­den : Die Rea­lang­st, die im Zusam­men­hang mit äuße­ren Gefah­ren steht, und die neu­ro­tische Ang­st, die aus Schuld­gefüh­len, Selbst­bes­tra­fung­sbedürf­nis­sen, inne­ren Ver­bo­ten und Ans­prü­chen heraus ents­teht. Wenn sich dann beide For­men der Ang­st ver­mi­schen, wenn die Rea­lang­st sich mit der neu­ro­ti­schen Ang­st ver­bin­det, wird die Rea­lang­st nicht nur um ein Ent­schei­dendes verstärkt, son­dern aus der Mischung ents­te­hen zwei neue For­men der Ang­st : depres­sive Ang­st und Verfolgungsangst. 

Poli­tisch inter­es­sant wird Ang­st im Zusam­men­hang damit, was Neu­mann die cäsa­ris­tische Iden­ti­fi­zie­rung mit den Füh­rern nennt. Cäsa­ris­tische Iden­ti­fi­zie­rung funk­tio­niert als Abwehr gegen die Ver­fol­gung­sang­st dank einer affek­ti­ven Anleh­nung an Füh­rer­per­so­nen. Solche Iden­ti­fi­zie­rung ents­teht pri­vi­le­giert in Gefah­ren­si­tua­tio­nen, und ganz beson­ders dann, wenn ges­chickte mediale und poli­tische Infor­ma­tions­tech­nik es vermö­gen die Rea­lang­st mit neu­ro­ti­scher Ang­st anzu­rei­chern und so gezielt, wenn auch nicht immer absicht­lich gewollt, in Ver­fol­gung­sang­st umzuwandeln. 

Neu­ro­tische und para­noide Äng­ste füh­ren, so Neu­mann, beim Betrof­fe­nen zum Ich­ver­lust, d. h. zur Ein­schrän­kung des ratio­na­len Den­kens und der freien Ent­schei­dung­smö­gli­ch­keit. Die Anleh­nung an den cha­ris­ma­ti­schen Füh­rer, der väter­liche Staats­mann oder die für­sor­gliche Staats­frau, das Zusam­men­gehö­rig­keits­gefühl in der Gruppe der Gleich­ge­sinn­ten – „vereint gegen den Feind“ – vermö­gen es diese „Ichein­schrump­fung“ durch regres­sive Entmün­di­gung zu kompensieren. 

Solche regres­sive Mas­sen­be­we­gun­gen erwei­sen sich in der Regel eher kurz­le­big, wenn die Ang­st und die Iden­ti­fi­zie­rung mit dem Füh­rer nicht aufrech­te­rhal­ten wer­den kön­nen. Neu­mann kennt jedoch aus sei­ner lang­jäh­ri­gen Faschis­mus­for­schung drei Metho­den der Ins­ti­tu­tio­na­li­sie­rung, welche die Nach­hal­tig­keit der regres­si­ven Mas­sen­be­we­gung garan­tie­ren : „der Ter­ror, die Pro­pa­gan­da und, für die Anhän­ger des Füh­rers, das gemein­sam began­gene Ver­bre­chen.“ 1954 zog Neu­mann daraus den Schluss, dass die Welt nicht weni­ger, son­dern mehr anfäl­lig für die Aus­bil­dung regres­si­ver Mas­sen­be­we­gun­gen gewor­den ist. Diese Hypo­these könnte man in der jet­zi­gen Situa­tion auf jeden Fall als bewährt ansehen. 

In der Poli­ti­schen Theo­lo­gie (1922) schrieb Carl Schmitt, einer der wich­tig­sten deut­schen Staats­recht­ler, der mit sei­nem Begriff des Aus­nah­me­zus­tands dem Ver­fas­sung­srecht eine neue, his­to­rische Wen­dung gab und damit das Staats­recht des Natio­nal­so­zia­lis­mus vor­be­rei­tete : „Die Aus­nahme ist inter­es­san­ter als der Nor­mal­fall. Das Nor­male beweist nichts, die Aus­nahme beweist alles ; sie bestä­tigt nicht nur die Regel, die Regel lebt übe­rhaupt nur von der Aus­nahme.“ Diese Umkeh­rung des Nor­ma­len und der Aus­nahme bes­timmt im Aus­nah­me­zus­tand das Den­ken der Poli­tik und lei­der all­zu oft auch der media­len Berichterstattung.

So befleißi­gen sich Medien und Poli­ti­ker in eige­nar­ti­ger präs­ta­bi­lier­ter Har­mo­nie, auch noch die jüng­ste Patien­tin, den stärks­ten Leis­tungs­sport­ler und den gesün­des­ten Nor­malbür­ger in der ent­le­gens­ten Ecke des Pla­ne­ten auf­zu­fin­den, die am grauen­haf­tes­ten vira­len Ers­ti­ckung­stod ges­tor­ben sind. Auch die Kate­go­rie des Gesun­den selbst wurde regel­bil­dend umge­kehrt, als sich herauss­tellte, dass Infi­zierte nicht zwin­gend Kranke sind. Damit scheint gemein­hin bewie­sen, dass jeder gesunde Mensch ein Kran­ker ist, der es noch nicht weiß. Gefähr­li­cher noch : Jeder schein­bar Gesunde wird selbst zum mögli­chen „Super­ver­brei­ter“ und zur schließ­lich zur möglich rea­len Todes­dro­hung für seine Fami­lie, seine Freunde und die Bevöl­ke­rung im Gan­zen wer­den. Der Feind lauert überall. 

Der heran­na­hende Fußgän­ger, der die Straßen­seite wech­selt, der ver­mummte Rad­fah­rer auf den men­schen­lee­ren Straßen der hin­ters­ten Pro­vinz, der empörte Denun­ziant im Super­markt und der Hob­by-Poli­zist in der Woh­nan­lage : Sie alle gehö­ren schon zu den willi­gen Hel­fern der regres­si­ven Ang­st­po­li­tik, die sich dafür stark macht, demo­kra­tische Grun­drechte und Frei­hei­ten auf dem Altar des Ter­rors und der Siche­rheit zu opfern. Blei­ben wir gesund, der Rechtss­taat kann warten.