(Erweiterte Fassung des Tageblatt-Artikels vom 19. Mai 2020)
In seiner Abhandlung über politische Theologie schrieb der Rechtswissenschaftler Carl Schmitt über den Ausnahmezustand, dass die Ausnahme interessanter als der Normalfall sei. Das Normale, so Schmitt, beweise nichts, die Ausnahme alles. Denn in „der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik.“
Im Editorial der Woxx vom 8. Mai gibt Luc Caregari eine interessante Aufzählung von parteipolitischen Eigenarten eines über die konstitutionell definierten Gefahrensituation hinaus andauernden Ausnahmezustands. Nach außen scheinen die Regierungsparteien sich derzeit von der Zivilgesellschaft gelöst zu haben. Obwohl das Editorial sich bei diesem Befund hauptsächlich auf das opportunistische Umschwenken der Grünen hinsichtlich des CETA Votums bezieht, lässt diese Feststellung sich leicht auf die anderen politischen Parteien übertragen.
Politische Parteien scheinen auch nicht mehr grundsätzlich die Interessen ihrer Wähler und Mitglieder zu repräsentieren. Sie scheinen sich vielmehr selbstreferenziell um sonst verschleierte Eigeninteressen von Führungseliten zu bemühen. Vorausgesetzt ist dabei die Überzeugung der Parteiführungen, dass nachträgliche politische Rhetorik jegliche Abweichung von den üblichen Parteilinien widerstandslos ins rechte Lot zu bringen vermag, falls die opportunistische Prinzipienlosigkeit nicht der üblichen Indifferenz der Wählerschaft anheimfallen sollte.
Auch scheinen Politiker selbst weniger von ‚ideologischen‘ und politischen Überzeugungen geleitet zu sein als von den veränderlichen Interessen tagesgeschäftlicher Dringlichkeiten. Aus diesem Grund empfinden es Politiker oder Parteien auch nicht als absurd oder unredlich sich heute gegen Verträge, gegen den Ausnahmezustand (wie es Déi Lénk mit Nachdruck vor 3 Jahren machten), für oder gegen die Demokratie stark zu machen, um morgen schon mit demselben Nachdruck und der gleichen rhetorischen Mobilisierung das Gegenteil zu verteidigen, so als, ob es nie Abweichungen von Parteilinien, von politischen Grundprinzipien oder inhaltlichen Wahlversprechen gegeben hätte.
Berechtigterweise zieht die Kritik daraus den enttäuschten Schluss, dass politische Parteien selbst die Voraussetzungen für den Populismus liefern, mit dessen Kritik sie umgekehrt dann ihre Glaubhaftigkeit wieder an die Wähler weiterverkaufen möchten.
Dieser ernüchterte Blick erinnert nicht zufällig an die Darstellungen der wissenschaftlichen Parteiensoziologie, angefangen mit Robert Michels bahnbrechendem Werk über die sozialistische Partei Deutschlands. Die soziologischen Analysen der Parteipolitik seit Michels geben in der Tat einen detaillierten Einblick auf die durchgängige Normalität der oben monierten Widersprüche.
Robert Michels beschrieb am Anfang des 20. Jahrhunderts die Grundstruktur und das Funktionieren von Parteien und Gewerkschaften mit seinem „ehernen Gesetz der Oligarchie“. Dieses Entwicklungsgesetz von politischen Verbänden erklärte Michels aus technisch-administrativen, psychologischen und intellektuellen Faktoren.
Da Massenparteien nicht mehr als direkte interne Demokratie funktionieren können, bedürfen sie einer bürokratischen Organisation. Es ist diese Organisation die Michels zufolge zu einer unüberwindbaren Arbeitstrennung zwischen Parteimitgliedern einerseits und einer Führungselite andererseits führt, die dann sich zunehmend in einer unbeweglichen Parteioligarchie verfestigt. Demokratische Parteien verwandeln sich so fast gesetzmäßig zu demokratischen Oligarchien, die nur noch formal vom Delegationsprinzip bestimmt werden.
Die so entstehende Oligarchisierung führt Michels zufolge darüber hinaus zu psychologischen „Metamorphosen“, zu eingefahrenen Denk- und Verhaltensmustern sowohl bei den apathisch werdenden Mitgliedern wie bei den cäsaristischen Führern. Bei diesen letzteren gilt nach Michels durchwegs die Einstellung : „Le Parti, c’est moi“. Mit der aus administrativer und politischer Expertise stammenden Macht, welche die Parteiführung progressiv monopolisiert schottet diese sich gleichzeitig nach unten mithilfe von internen Kartellbildungen ab. Parteien werden damit zu verhärteten Eliteherrschaftsverbänden die sich nach oben allen Formen politischer Korruption − Vorteilsnahme und Vorteilsgewährung, Klientelismus, Nepotismus, Patronage, Drehtüreffekt, Lobbyismus, usw. – öffnen und nach unten Ernüchterung und Entfremdung herbeiführen.
Michels über 500 Seiten lange und mit ausgiebigem Beweismaterial angereicherte Analyse bezieht sich jedoch vorrangig auf die Massenparteien des späten 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Diese Massenparteien sollten anfangs noch klar abgegrenzte Segmente der Gesellschaft mit einer gemeinsamen Ideologie repräsentieren und so als Sprachrohr von mehr oder weniger homogenen gesellschaftlichen Klassen dienen. Es gehörte noch zum Selbstverständnis dieser Massenparteien, dass die Führungseliten die Interessen ihrer Wähler und Mitglieder aus der Zivilgesellschaft heraus repräsentierten und so mittels Mandate an die Staatsmacht herantrugen. Daher konnte die organisationale, psychologische und intellektuelle Oligarchisierung dieser Parteien noch als verstörendes Paradox erscheinen.
In den späten 60er-Jahren nahm der Staatsrechtler Otto Kirchheimer Michels‘ Analysen wieder auf, um die Entwicklung eines neues Parteitypus hinzuweisen, der aus den Massenparteien heraus entstanden war. Solche Parteien bezeichnete Kirchheimer als „catch-all“ Parteien, als Volksparteien oder „Allerweltsparteien“.
Volksparteien, so Kirchheimer, hegen nicht mehr den Anspruch bestimmte Segmente oder Klassen politisch zu repräsentieren, sondern beschränken sich auf kurzfristige Erfolge bei Wahlen. Die notwendige politische Flexibilität im unmittelbaren politischen Kampf wird durch die Aufopferung jeder durchgängigen politischen Ideologie und zugunsten von heterogenen Richtlinien (policies) verwirklicht. Wie die Massenparteien kennzeichnen sich die Volksparteien durch eine unumkehrbare Verfestigung von Parteieliten, aber auch durch eine abnehmende Anzahl von Parteimitgliedern.
In den Volksparteien dient die Loslösung der innerparteilichen Repräsentation auch weiterhin der Flexibilisierung von Parteipositionen und Entscheidungen. So können mögliche Zielgruppen möglichst weitgefächert mit partikularen Inhaltspunkten zu Wahlerfolgen mobilisiert werden. Mit der Auflösung jeder klaren parteilichen Orientierung verliert sich auch noch der Anschein jeglicher „bottom-up“ Organisation.
In der „top-down“ Strukturierung der Volkspartei fungieren Parteimitglieder nur noch zum Entscheidungsplebiszit der Führungseliten. Infolge dieser Umkehrung können die Eigeninteressen der Parteivorstände sich weithin von den Bindungen zur Zivilgesellschaft befreien, um sich verstärkt dem Aufbau von dauerhaften Positionen innerhalb des Staats durch Ämterbesetzungen von Parteimitgliedern zu bemühen. Entsprechend den selbstreferenziellen Interessen der Parteiführung können privilegierte Mitglieder der Volkspartei ihre eigenen beruflichen und finanziellen Interessen durch die Unterstützung der Eliten fördern.
In den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts verlor aber auch dieses Parteimodell an Bedeutung. Die Politikwissenschaftler Peter Mair und Richard Katz schlossen aus ihren Analysen der Verfallsbewegung von Volksparteien, die mit der „Krise der westlichen Demokratien“ einherging, auf eine neue Organisationsform der politischen Verbände die sie als Kartellparteien bezeichneten. Bei den Kartellparteien wird die Wählerbindung noch einmal abgeschwächt und die aktive Mitgliedschaft minimiert. Kartellparteien sind demzufolge, nach dem Ausdruck von Katz und Mair, „Parteien ohne Partisanen“. Sie sind professionalisierte Medien– und Kommunikationsparteien, die Mitgliedern weniger politische Inhalte als Teilhabe an sozialen, politischen und finanziellen Netzwerken anbieten.
Weil Kartellparteien zunehmend aus staatlichen Ressourcen finanziert werden, ziehen sie sich noch weiter aus der Zivilgesellschaft auf ihre parlamentarischen Einflussnahmen und auf die angestrebten Regierungsfunktionen der Parteieliten zurück.
Die innere Herrschaft der Parteiführung orientiert sich demzufolge auch fast ausschließlich der Zusammenarbeit mit anderen professionalisierten Eliten in den wechselnden Positionen von Regierung, Opposition und privaten Partnerschaften. Zur möglichst reibungslosen Zusammenarbeit solcher staatlich-privater Machtkonvergenz – die sich gerne als Konsenspolitik oder Konsensdemokratie verbrämt – müssen sich politische Parteien deshalb so weit wie möglich zu depolitisieren. Nur so können sie, als verlässliche Kooperationspartner von partikularen Interessen bei den sich anbietenden Gelegenheiten zur Verfügung zu stehen. Ideologien und reale inhaltliche Differenzen zwischen Parteien müssen sich bei solchen Partnerschaften notwendigerweise ganz auflösen und können nur noch medialen Darstellungen dienen.
Bei Kartellparteien fungieren politische Delegation und Repräsentation nicht einmal mehr als mögliche Hindernisse der machtorientierten Selbstreferenzialität, so wie das bei den Volksparteien noch der Fall sein konnte. Delegation und Repräsentation sind hier durch medientechnische Demagogie ersetzt und werden weitestgehend von professionalisierter Meinungsmanipulation durch Marketingtechniken abgelöst. Parteipolitik wird letztendlich von Medienmentoren zu öffentlichen Inszenierungen umfunktioniert und „durch strategische Versuche der politisch-manipulativen Herstellbarkeit eines nun imaginären oder fiktiven Volkswillens ersetzt“ (F. W. Rüb)
Aus solcher Charakterisierung wird leicht ersichtlich, dass die real existierende repräsentative Demokratie mit den Kartellparteien obsolet wurde. Denn die Umkehrung der innerparteilichen Repräsentation der Basis durch die Führung wird von den Kartellparteien auch auf das Verhältnis von Regierung und Volk weitergeleitet.
Staatspolitik wird mit den Kartellparteien zur wählerfremden Selbstbedienung von politischen und wirtschaftlichen Eliten, die folglich mit überraschender Leichtigkeit von rechts- und linkspopulistischen Kritiken aufgegriffen und politisch mobilisiert werden können. Neben der nachgewiesenen weitverbreiteten autoritären Gesinnung von großen Teilen der heutigen Wählerschaft tragen die Kartellparteien wesentlich zur Stärkung der Reaktion bei, die sie dann heuchlerisch als gefährlichen Populismus aburteilen.
Rechts- und Linksradikalismus stellen dennoch nur die andere Seite der Kartellparteien und ihrer Depolitisierung dar. Beide gehören zur gemeinsamen, unaufhaltbaren gesellschaftlichen Entwicklung in Richtung Postdemokratie.
Während manipulative Medieneffizienz und politisches Schauspiel diese Bewegung im „Flugsand tagespolitischer Kontroversen“ (Habermas) noch größtenteils zu verdecken vermögen, treten sie im Ausnahmezustand unverdeckt in Erscheinung.
In seinem 2003 erschienen Buch Ruling the Void zeichnet Peter Mair diese Wandlungen der Parteipolitik und der Demokratie noch eingehender nach. Die Ära der Parteipolitik und mit ihr die Ära der volksvertretenden Demokratie sind vorbei, so Mairs ernüchterte Feststellung. Die klassische Rechts- und Linksorientierung wurde ausgehöhlt und bedeutungslos, ohne durch neue Paradigmen ersetzt zu werden. Parteilinien, auch wenn sie noch oberflächlich mit ideologischen Signalwörtern operieren und sich auf assoziationsgeladene Etiketten berufen, verbergen kaum die inkohärente Fragmentierung der Politik.
Indem die Demokratie klassische Parteien hinter sich lässt, operiert Politik einerseits in immer größerem Abstand von jeglicher Involvierung der Bevölkerung. Das bringt auf der anderen Seite ein wachsendes Desinteresse der Bevölkerung an der Parteipolitik. Politik wird zum Schauspiel, von dem die Bevölkerung nur noch eine Außenansicht hat. Die Parteiendemokratie verwandelt sich dann zu einer Audienzdemokratie, die sich voranging auf die kurzen Zeiträume vor den Wahlen konzentriert.
Was das Woxx Editorial also zurecht als undemokratisch moniert, bezieht sich keinesfalls nur auf einen politischen Ausnahmezustand. Der juristische Ausnahmezustand ist, in Carl Schmitts Worten, die Stunde der Exekutive. Und deswegen ist er auch die Stunde der unbehinderten Politik von etablierten und aspirierenden Kartellparteien, die sich in einstimmiger Kollusion die Macht- und Finanzressourcen des Staats aufteilen.