Der Marsch in die linke Bevormundung

„Es geht um den Umbau der Welt zur Hei­mat, ein Ort, der allen in der Kind­heit scheint und worin noch nie­mand war.“ (Ernst Bloch, Das Prin­zip Hoff­nung, 1959)

His­to­risch trat die Linke ein­mal mit dem Vers­pre­chen von Frei­heit, Glei­ch­heit und Brü­der­li­ch­keit an. Im Par­la­ment der Revo­lu­tions­zeit von 1789 saßen die Ver­tre­ter der Monar­chie und der feu­da­len Gesell­schaft­sor­ga­ni­sa­tion auf der rech­ten Seite des Königs. Auf der lin­ken Seite saßen die Repu­bli­ka­ner, die den monar­chi­schen Staat durch einen das Volk ver­tre­ten­den Staat erset­zen woll­ten. (S. Cagé & Piket­ty, 2023)

Diese, dem franzö­si­schen Wort­ge­brauch des spä­ten 18. Jah­rhun­derts nach erste Linke stand also für eine libe­rale demo­kra­tische Volk­sherr­schaft. Die Vor­den­ker die­ser Lin­ken waren die Phi­lo­so­phen der Aufklä­rung. Allen voran Vol­taire und Jean-Jacques Rous­seau ; die Den­ker der Befreiung des Volks von der Tyran­nei der Kirche, der Loslö­sung von der Monar­chie und deren Staat. (Furet, 1998) 

Die aktuelle Linke arbei­tet jedoch wie­der an einer poli­ti­schen Umkeh­rung die­ser Posi­tio­nen. Mit den Schlag­wor­ten der „Soli­da­rität“ und der „Gerech­tig­keit“ soll der Libe­ra­lis­mus, der die urs­prün­gliche Linke der franzö­si­schen Revo­lu­tionäre kenn­zeich­nete, wie­der von einem staat­lich verord­ne­ten Kol­lek­ti­vis­mus übe­rholt wer­den. Der „demo­kra­tische Zen­tra­lis­mus“ von Staat und Par­tei scheint unse­ren Lin­ken erneut als mora­lische Lösung poli­ti­scher Pro­bleme zeitgerecht.

1. Umstrittene Begriffe

Poli­tische Begriffe ste­hen im his­to­ri­schen Wan­del. Ihre Bedeu­tun­gen sind verän­der­lich, weil sie selbst Teil des poli­ti­schen und ges­chicht­li­chen Kampfs um Wör­ter und Sym­bole sind. 

Was Wör­ter wie „Demo­kra­tie“, „Libe­ra­lis­mus“, „Kapi­ta­lis­mus“, oder „Soli­da­rität“ im Abso­lu­ten, auße­rhalb jeder Ges­chichte und jeder Poli­tik heißen mögen, mag ein inter­es­santes Pro­blem für Einfüh­run­gen in die poli­tische Phi­lo­so­phie der Sekun­dars­tufe darstellen. 

Im real exis­tie­ren­den poli­ti­schen Dis­kurs wer­den sie jedoch sowohl von links wie von rechts, vom Indi­vi­dua­lis­mus wie vom Kol­lek­ti­vis­mus, vom Kapi­ta­lis­mus wie vom sow­je­ti­schen Kol­lek­ti­vis­mus, von libe­ra­len Demo­kra­ten wie von elitä­ren Exper­to­kra­ten in Ans­pruch genommen. 

Diese Über­le­gun­gen gel­ten selbst­verständ­lich auch für Gedan­ken­sys­teme und ganze poli­tische Phi­lo­so­phien. Mit rhe­to­ri­scher Fer­tig­keit und begrif­fli­cher Dreis­tig­keit kön­nen auch die Den­ker der indi­vi­duel­len Frei­heit als Garan­ten kol­lek­ti­vis­ti­scher Dik­ta­tu­ren umge­deu­tet werden. 

Die demo­kra­tische Repu­blik Deut­schlands war auf einem, von Lenin soge­nann­ten „demo­kra­ti­schen Zen­tra­lis­mus“ gegrün­det, in der die sozia­lis­tische Ein­heits­par­tei weh­rhafte „Rück­sicht auf die Gemein­schaft“ ausübte. Auch hier war das Ziel, wie es die „Phi­lo­so­phie“ der neuen luxem­bur­gi­schen Lin­ken wie­der for­dert „immer die public hap­pi­ness, für die sich der Ein­zelne zurü­ck­neh­men musste“ (L. Held, déi Lénk, Face­book, am 28. Sep­tem­ber 2023, eine Woche vor den Wah­len) gegen die indi­vi­duel­len Frei­hei­ten durchzusetzen.

2. Die wahre Linke

Wäh­rend der Pan­de­mie wurde die For­de­rung eines staat­lich verord­ne­ten Kol­lek­ti­vis­mus zur stärks­ten For­de­rung einer Lin­ken, für die sich die soziale Frage inz­wi­schen auf gerech­te­ren Zugang zum pri­va­ten Immo­bi­lien­be­sitz, auf Steuer­ge­rech­tig­keit und Bei­be­hal­tung der Kauf­kraft bes­chränkt hatte. 

Die Frage, wie eine „anti­ka­pi­ta­lis­tische“ Par­tei sich für mehr Pri­vat­be­sitz und mehr Kauf­kraft ein­set­zen und zugleich den „ent­grenz­ten und indi­vi­dua­lis­ti­schen Kon­sum“ (L. Held, déi Lénk) anpran­gern kann, hat keine logische oder poli­tische Antwort. 

Links ist, was die linke Par­tei ver­tritt. Oder, wie ein Mit­glied der Par­tei mir ein­mal erklärte : Wir dür­fen die Wör­ter doch so defi­nie­ren, wie es uns rich­tig scheint. Links ist also, was die Par­tei als Links aus­gibt. Wer sich daran stößt, der ist kein wah­rer Linker. 

Man denkt hier an den bekann­ten Witz des „wah­ren Schot­ten“. Es han­delt sich um einen bekann­ten Trug­schluss, der darin bes­teht, Voraus­set­zun­gen rück­wir­kend immer so zu verän­dern, dass sie zur gewün­sch­ten „Wah­rheit“ passen : 

  • „Kein Schotte streut Zucker auf sei­nen Haferbrei.“
  • „Aber mein Onkel ist Schotte, und er streut sich Zucker auf den Haferbrei.“
  • „Dann ist dein Onkel kein wah­rer Schotte!“ 

3. Der Liberalismus der ersten Linken

Die all­ge­meine Bedeu­tungs­än­de­rung der poli­ti­schen Begriffe trifft auch auf die gebräu­chliche „links-rechts“ Oppo­si­tion zu. His­to­risch war die poli­tische Phi­lo­so­phie der ers­ten Lin­ken die­je­nige des moder­nen Libe­ra­lis­mus. Der deutsche Phi­lo­soph Kant bes­chrieb die Prin­zi­pien des Libe­ra­lis­mus der Aufklä­rung noch vor der Revo­lu­tion auf fol­gende Art :

Zu die­ser Aufklä­rung aber wird nichts erfor­dert als Frei­heit ; und zwar die unschäd­lichste unter allem, was nur Frei­heit heißen mag, näm­lich die : von sei­ner Ver­nunft in allen Stü­cken öffent­li­chen Gebrauch zu machen. Nun höre ich aber von allen Sei­ten rufen : räson­niert nicht ! Der Offi­zier sagt : räson­niert nicht, son­dern exer­ziert ! Der Finanz­rat : räson­niert nicht, son­dern bezahlt ! Der Geist­liche : räson­niert nicht, son­dern glaubt ! (Nur ein ein­zi­ger Herr in der Welt sagt : räson­niert, soviel ihr wollt und worü­ber ihr wollt, aber gehorcht!) Hier ist übe­rall Ein­schrän­kung der Freiheit.

I. Kant. 1784. Beant­wor­tung der Frage : Was ist Aufklärung ?

Für den wohl bekann­tes­ten Phi­lo­so­phen der Aufklä­rung sollte somit der Staat in ers­ter Linie dem Zweck der Frei­heits­si­che­rung der Indi­vi­duen dienen. Der Libe­ra­lis­mus der Aufklä­rung for­dert die poli­tische Dok­trin der indi­vi­duel­len Frei­heit gegen die als willkür­lich emp­fun­dene Gewal­therr­schaft der Kirche, der Monar­chie und ihres Staats. Selbst­verständ­lich wird man ande­rer­seits auch bei Kant selbst wie­der Ele­mente der Dis­zi­pli­nie­rung der „wil­den Frei­heit“ fin­den, auf die sich dann spä­ter die Anhän­ger einer mora­li­sier­ten Frei­heits­bes­chrän­kung beru­fen können. 

Der linke Libe­ra­lis­mus der Franzö­si­schen Revo­lu­tion, der sich auch im Hin­blick auf die deutsche Aufklä­rung vers­tand (Cas­si­rer, 2022), beruhte auf einer Aktua­li­sie­rung des mit­te­lal­ter­li­chen Natur­rechts (Bou­reau, 2002[1]). Nach die­sem Rechts­be­griff setzt sich die Gesell­schaft fak­tisch aus Indi­vi­duen zusam­men, die ein Recht auf ihr eigenes Leben, ihre eige­nen Über­zeu­gun­gen, Inter­es­sen und Lebens­ziele haben. Das recht­liche und poli­tische „Sol­len“ ents­teht im Natur­recht aus dem „Sein“ die­ser Individuen.

Jean-Jacques Rous­seau war in die­sem Zusam­men­hang als Kon­ten­punkt für die Poli­tik inter­es­sant. In sei­nem Contrat Social (1762) ver­suchte er das Natur­recht auf freie Selbst­bes­tim­mung mit der staat­li­chen Frei­heits­be­gren­zung zu ver­bin­den. Die­ser Ver­such erlaubte in der Folge zwei ent­ge­gen­ge­setzte Auslegungen. 

„Der Mensch ist frei gebo­ren“ schreibt Rous­seau ganz natur­recht­lich gleich zu Beginn seines Contrat Social, und „auf seine Frei­heit ver­zich­ten heißt auf seine Eigen­schaft als Mensch“ zu verzichten. 

Daraus lei­te­ten die ers­ten Revo­lu­tionäre die Idee ab, dass staat­liche Frei­heits­bes­chrän­kung nur als freie Ent­schei­dung von gleich­be­rech­tig­ten Indi­vi­duen möglich sein sollte. Aber wie wir sehen wer­den, vers­tand der radi­kale Demo­krat Robes­pierre Rous­seau dies Idee spä­ter genau umge­kehrt. (Cas­si­rer, 2022[2])

4. Der aufgeklärte Liberalismus unserer Grundrechte

Es wäre nicht über­trie­ben zu behaup­ten, dass die­ser erste poli­tische Libe­ra­lis­mus sei­nen Nie­der­schlag in den Grun­drech­ten der heu­ti­gen west­li­chen demo­kra­ti­schen Ver­fas­sun­gen gefun­den hat. 

Das Recht auf freies Leben, die Glei­ch­heit vor dem Gesetz, das Recht, die eige­nen Über­zeu­gun­gen und den eige­nen Glau­ben aus­zus­pre­chen und aus­zuü­ben, sofern die Ausü­bung die­ser Rechte andere nicht davon abhält, Gleiches zu tun, und das Recht auf die freie Ent­fal­tung der indi­vi­duel­len Persön­li­ch­keit stam­men alle aus dem Libe­ra­lis­mus der his­to­ri­schen Linken.

Die Wis­sen­schaft­li­chen Dienste des Deut­schen Bun­des­tags bes­chrei­ben den Aufklä­rungs-Libe­ra­lis­mus der Grun­drechte in fol­gen­der Weise :

Nach der Rechts­pre­chung des Bun­des­ver­fas­sung­sge­richts sol­len die Grun­drechte in ers­ter Linie die Frei­heitss­phäre des Ein­zel­nen gegen Ein­griffe der staat­li­chen Gewalt schüt­zen und ihm inso­weit die Voraus­set­zun­gen für eine freie aktive Mit­wir­kung und Mit­ges­tal­tung im Gemein­we­sen sichern. In die­ser Abwehr­funk­tion ents­pre­chen sie den Men­schen­rech­ten der ers­ten Gene­ra­tion, wie sie sich in der Ideen­welt der Aufklä­rung und des Libe­ra­lis­mus ent­wi­ckelt haben.

Deut­scher Bun­des­tag, 2008

5. Von links nach rechts

Die Franzö­sische Revo­lu­tion erlaubt es zu illus­trie­ren, wie schnell sich die Bedeu­tung der poli­ti­schen Begriffe ändern kann. Die Linke, die noch 1789 für die Frei­heit der Indi­vi­duen stand, wan­delte sich 1793, unter der Lei­tung von Maxi­mi­lien de Robes­pierre, ins Gegen­teil der libe­ra­len Demokratie. 

Auch Robes­pierre bezog sich auf Jean-Jacques Rous­seau – auf sei­nen Begriff des „Gemein­willens“ –, um des­sen Idee des frei­heit­li­chen Ver­trags zwi­schen freien Indi­vi­duen in einen dik­ta­to­ri­schen Kol­lek­ti­vis­mus umzudeuten. 

Mit der „guten“ Absicht, die Sou­verä­nität des Volks, die Gerech­tig­keit und öffent­liche Moral zu ret­ten, prok­la­mierte der „neue“ Linke : „Die revo­lu­tionäre Regie­rung schul­det den guten Bür­gern den gesam­ten natio­na­len Schutz ; den Fein­den des Volks schul­det sie nur den Tod“. 

Selbst­verständ­lich lag es im Ermes­sen der revo­lu­tionä­ren Regie­rung selbst zu ent­schei­den, was der „Gemein­willen“ und wer ein „guter Bür­ger“ oder ein „Feind“ der Demo­kra­tie war. Die­ser Libe­ra­lis­mus der kol­lek­ti­ven demo­kra­ti­schen Soli­da­rität wurde als die „Ter­ro­rherr­schaft“ von 1793 bekannt. 

Mit dem „großen Ter­ror“ von 1794 beginnt dann auch die Ges­chichte der „weh­rhaf­ten Demo­kra­tie“, von der die heu­ti­gen Lin­ken wie­der von rechts außen träumen. 

In den 60er-Jah­ren des 20. Jah­rhun­derts hat auch Jacob Tal­mon Rous­seau noch ein­mal in die­ser Art gele­sen. Im 3. Kapi­tel sei­ner Urs­prünge der tota­litä­ren Demo­kra­tie von 1952, bes­chreibt Tal­mon Rous­seau als einen „gequäl­ten Para­noi­ker“ (Tal­mon, 1961, S. 35), für den die Frei­heit nur in der „Züge­lung irra­tio­na­ler und selbstsüch­ti­ger Triebe durch Ver­nunft und Pflicht“ bes­te­hen kann. Der Gemein­wille Rous­seaus lebt nach Tal­mon im „kol­lek­ti­ven Gefühl der Erhe­bung“ eines einmü­ti­gen Volks. So lässt der Gemein­wille dann „kein Entrin­nen vor der Dik­ta­tur“. Von Rous­seau führt in die­ser Pers­pek­tive ein direk­ter Weg zur jako­bi­ni­schen Dik­ta­tur, zur „Volks­seele“ der Natio­nal­so­zia­lis­ten und zu Sta­lins Mos­kauer Prozessen. 

6. Kollektiv mit staatlichem Sendungsbewusstsein

Für die luxem­bur­gische Linke ist linke Poli­tik, Poli­tik der „Soli­da­rität“. Aber „Soli­da­rität“ steht heute wie­der für den kol­lek­ti­ven Zusam­men­halt einer homo­ge­nen Gemein­schaft oder eines homo­ge­nen Gemeinwillens. 

In der Nach­folge von Robes­pierre dachte der spä­ter natio­nal­so­zia­lis­tische Ver­fas­sung­srecht­ler Carl Schmitt die Soli­da­rität der weh­rhaf­ten Demo­kra­tie fol­gen­der­weise (1923):

Jede wirk­liche Demo­kra­tie beruht darauf, dass nicht nur Gleiches gleich, son­dern, mit unver­meid­li­cher Kon­se­quenz, das Nicht-Gleiche nicht gleich behan­delt wird. Zur Demo­kra­tie gehört also not­wen­dig ers­tens Homo­ge­nität und zwei­tens – nöti­gen­falls – die Aus­schei­dung oder Ver­nich­tung des Heterogenen.

Carl Schmitt. 2016. Die geis­tes­ges­chicht­liche Lage des heu­ti­gen Par­la­men­ta­ris­mus [1926].

Hie­raus lässt sich der Weg der Lin­ken von links nach rechts ermes­sen. Die Par­tei déi Lenk (zuerst „Die neue Linke“) trat nach der Veröf­fent­li­chung der Pro­gramm­schrift „Abschied vom Kom­mu­nis­mus ? Plä­doyer für einen neuen sozia­len Huma­nis­mus“ als Par­tei für demo­kra­tisch-huma­nis­ti­schen Sozia­lis­mus ins Leben. 

Der Autor, Gym­na­sial­leh­rer in Phi­lo­so­phie und lang­jäh­riges Mit­glied der sow­jet­las­ti­gen kom­mu­nis­ti­schen Par­tei, André Hoff­mann, bes­chriebt dort, wie sich eine moderne linke Par­tei von der sta­li­nis­ti­schen „Zwang­skol­lek­ti­vie­rung“ lösen könne, und einen demo­kra­ti­schen Huma­nis­mus ver­tre­ten solle, der damals noch „Frei­heit der Selbs­tent­fal­tung für ALLE“ (Hoff­mann, 1992, S. 73) vers­prach. Präteritum ! 

Lesen wir noch ein­mal die Sätze einer der Parteigründer :

Welche Werte sind es also, die die ethische Sub­stanz der Mar­x­schen Theo­rie aus­ma­chen – und inwie­weit kön­nen sie auch heute frucht­bar blei­ben oder es wie­der werden ?

Es ist – auch wenn es auf den ers­ten Blick ers­taun­lich klin­gen mag – nicht so sehr (und jeden­falls nicht nur) die „soziale Gerech­tig­keit“, die „gerechte Ver­tei­lung“. Marx hat immer wie­der Kri­tik geübt am poli­ti­schen Ziel einer illu­so­ri­schen Gerech­tig­keit inne­rhalb einer Gesell­schaft, in der die FREIE ENTFALTUNG der Indi­vi­duen verhin­dert wird.

Die Ethik von Marx ist weni­ger eine Ethik der „Gerech­tig­keit“ als eine Ethik der FREIHEIT.

Er über­nimmt gewis­ser­maßen den bes­chränk­ten, abs­trak­ten Frei­heits­be­griff der bür­ger­li­chen Aufklä­rung, der bür­ger­li­chen Revo­lu­tio­nen, des Libe­ra­lis­mus, er kon­fron­tiert die­sen Begriff mit der sozia­len und öko­no­mi­schen Wirk­li­ch­keit, mit der wirk­li­chen Lebens­weise der Indi­vi­duen (der Loh­nabhän­gi­gen), er wei­tet den Begriff aus, kon­kre­ti­siert ihn, verall­ge­mei­nert ihn.“

Hoff­mann, André. 1992. Abschied vom Kom­mu­nis­mus ? Plä­doyer für einen neuen sozia­len Humanismus.

Die neuen neuen „Lin­ken“ der letz­ten bei­den Legis­la­tur­pe­rio­den haben sich jedoch für eine andere Art von Soli­da­rität ent­schie­den. Das staat­lich verord­nete linke Kol­lek­tiv für mora­lische Soli­da­rität soll sowohl die soziale Gerech­tig­keit, Sys­temän­de­rung, Bes­teue­rung der Rei­chen, Kli­ma- und Umwelt­schutz, grü­nen Wachs­tum, und somit den nach­hal­ti­gen Frie­den auf Erden her­beifüh­ren. Dafür sind aber immer neue gesell­schaft­liche Ver­bote und persön­liche Ver­zichte unumgänglich.

Wäh­rend die post-sow­je­tische Linke in der Nach­folge des sozia­lis­ti­schen Huma­nis­mus Fromms „völ­lige Ent­wi­ck­lung der men­schli­chen Eigen­kräfte“ als Widers­tand gegen die „totale Büro­kra­ti­sie­rung“ der staat­li­chen Bevor­mun­dung (Fromm, 2014) for­derte, hof­fen die jün­ge­ren Lin­ken wie­der auf die bes­se­ren Zei­ten der Okto­ber­re­vo­lu­tion. Soli­da­rität heißt daher wie­der kol­lek­ti­vis­tisch-sow­je­tische Bevor­mun­dung mit „Ver­zicht und Verbot“.

7. Staatlichen Verbote für disziplinierte Freiheit

Der Vor­wurf, die Linke sei eine Ver­bots- und Ver­zichts­par­tei – ver­ges­sen wir die For­de­rung des „Bes­tra­fens“ nicht – ist unzu­tref­fend, schreibt der „Phi­lo­soph“ und Lis­ten­kan­di­dat Lukas Held auf Face­book, wortfüh­rend für die Partei. 

Für den neuen lin­ken Den­ker sind die staat­lich (sic) angeord­ne­ten Ver­bote, Selbst­bes­chrän­kun­gen und Ver­zichte das legi­time Mit­tel gegen die gren­zen­lose „Kon­sum­frei­heit“ des neo­li­be­ra­len Egois­mus. Soli­da­risch sein heißt den Kampf gegen den psy­cho­lo­gisch-mora­li­schen „Anti-Ver­bot-Reflex“ des eigennüt­zi­gen Unge­hor­sams aufzunehmen. 

Wenn der sozia­lis­tische Huma­nist Erich Fromm dachte, dass blin­der Gehor­sam gegenü­ber der „Macht des Staates“ und der öffent­li­chen Mei­nung ein Kenn­zei­chen des auto­ritä­ren Unter­ta­nen und des ver­wal­te­ten „Orga­ni­sa­tions­men­schen“ seien (Fromm, a.a.O., S. 365 – 373), behaup­tet die neue linke Phi­lo­so­phie ganz im Gegen­teil, dass Unge­hor­sam das aus­schließ­liche Kenn­zei­chen der neo­li­be­ra­len Selbst­sucht sei. 

Der libe­rale Egois­mus und seine Kon­sum­sucht sol­len durch „pro­gres­sive“ Frei­heits­bes­chrän­kung, soli­da­rische „Affekt­kon­trolle“ und mehr „sinn­volle Ver­bote“ ver­tilgt wer­den : Qui bene amat bene castigat. 

So soll, laut einer ande­ren Lis­ten­kan­di­da­tin der Lin­ken, dann auch die lebens­werte linke Zukunft der zukünf­ti­gen Gene­ra­tio­nen aus­se­hen. Der egois­tische Geist des Neo­li­be­ra­lis­mus soll durch den soli­da­ri­schen Staat in (fast) allen sei­nen For­men aus­ge­merzt wer­den. Wohl­ge­merkt, mit der Aus­nahme von Pri­vat­be­sitz und Kauf­kraft. Man möchte wohl nicht alle Wäh­ler vergraulen.

Wer in sol­chen Plä­doyers für mora­li­sie­rende Staats­macht noch Zwei­deu­tig­kei­ten sieht, der kann vom beseel­ten Kom­men­tar eines ande­ren wah­ren Lin­ken aus sei­nem „ver­ne­bel­ten Den­ken“ (L. Held) gerüt­telt werden : 

Einer­seits wird behaup­tet, dass es eine Demo­kra­tie gibt, aber warum wird dann der demo­kra­tische Ermes­sens­spiel­raum und die Macht des Staats auf Geheiß von Ein­zel­per­so­nen ein­ges­chränkt ? Unter­lie­gen diese Per­so­nen nicht auch einem demo­kra­ti­schen Kon­sens ? Wahr­schein­lich muss man ihnen die Ety­mo­lo­gie der Demo­kra­tie noch ein­mal beibringen.

Aus der Wor­ther­kunft leuch­tet zwang­släu­fig ein : Die Frei­heit des Staats ist unan­tast­bar und das Indi­vi­duum soll dem Staats­kon­sens „unter­lie­gen“. So viel prak­tische Ety­mo­lo­gie soll in der lin­ken Demo­kra­tie sein. Aus­schei­dung oder Ver­bot des Heterogenen.

8. Es ist verboten, nicht zu verbieten !

Fasen wir also zusammen :

„Demo­kra­tie“ heißt der neuen lin­ken Robes­pierre-Soli­da­rität : Die Frei­heit des Staats darf nicht mehr durch kon­sen­sunfä­hige neo­li­be­rale Indi­vi­duen ohne Affekt­kon­trolle ein­ges­chränkt werden. 

„Anti­ka­pi­ta­lis­mus“ heißt, dass die Absi­che­rung der Kauf­kraft nicht mehr dem egois­ti­schen Kon­sum, son­dern dem pro­tes­tan­ti­schen Trieb­ver­zicht und der Affekt­kon­trolle dient. 

Und linke „Sys­temän­de­rung“ heißt, dass das soli­da­rische Zusam­men­le­ben auf den Grund­mauern des mora­lisch gerech­ten Pri­vat­be­sitzes auf­ge­baut wird : Immo­bi­lien für die Arbei­ter, Steuern für die Rei­chen, Ver­zichts- und Ver­bots­mo­ral für alle. 

Denn wir haben nichts zu ver­lie­ren als unsere selbst-beses­sene Frei­heit und unsere Abwehr­rechte gegen den Staat. Und wir haben eine Welt von neuen sozia­lis­ti­schen Ket­ten zu gewinnen. 

Literatur

  • Bou­reau, Alain. 2002. « Droit natu­rel et abs­trac­tion judi­ciaire. Hypo­thèses sur la nature du droit médié­val ». Annales 57(6):1463‑88.
  • Cagé, Julia, und Tho­mas Piket­ty. 2023. Une his­toire du conflit poli­tique. Elec­tions et inéga­li­tés sociales en France, 1789 – 2022 : Elec­tions et inéga­li­tés sociales en France, 1789 – 2022. Seuil.
  • Cas­si­rer, Ernst. 2022. „Die Idee der repu­bli­ka­ni­schen Ver­fas­sung : Rede zur Ver­fas­sung­sfeier.“ Am 11. August 1928. Reprint 2022. Ber­lin ; De Gruyter.
  • Deut­scher Bun­des­tag. 2008. „Zum ‚Grun­drecht auf Sicherheit‘“. 
  • Fromm, Erich. 2014. Sozia­lis­ti­scher Huma­nis­mus und Huma­nis­tische Ethik. Vol. IX. Erich Fromm : Gesam­taus­gabe. 19. Auflage. Mün­chen : Deut­scher Taschen­buch Verlag.
  • Furet, Fran­çois. 1998. „La phi­lo­so­phie des Lumières et la culture révo­lu­tion­naire“. S. 153 – 67 in L’Europe dans son his­toireHis­toires. Paris : Presses Uni­ver­si­taires de France.
  • Kant, Imma­nuel. »Beant­wor­tung der Frage : Was ist Aufklä­rung?« in : »Ber­li­nische Monats­schrift«, Dezem­ber- Heft 1784, S. 481 – 494.
  • Tal­mon, J. L. 1961. Die Urs­prünge der tota­litä­ren Demo­kra­tie. Wies­ba­den : VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  • Schmitt, Carl. 2016. Die geis­tes­ges­chicht­liche Lage des heu­ti­gen Par­la­men­ta­ris­mus. 10ᵉ Aufl. Ber­lin : Dun­cker & Humblot.

[1] „Die „Natur“ des Natur­rechts bes­teht in der Tat­sache, als Mensch gebo­ren zu sein : Die Natu­ra der mit­te­lal­ter­li­chen Theo­lo­gie bezeich­net sowohl das Wesen eines Wesens als auch das Erei­gnis der Geburt. […] Diese Rechte sind natür­lich (da sie sich aus einer objek­ti­ven Tat­sache ablei­ten, dass ein Mensch gebo­ren wurde), indi­vi­duell (jede Geburt ist ein­zi­gar­tig), sub­jek­tiv (sie sind mit die­sem Indi­vi­duum ver­bun­den und blei­ben unveräußer­lich) und aktiv (jeder kann sie ein­for­dern).“ (Bou­reau, 2002, S. 1465)

[2] Aus kri­ti­scher Sicht : „Denn bei Rous­seau opfert das Indi­vi­duum, indem es durch den Gesell­schafts­ver­trag mit ande­ren in Gemein­schaft tritt, sich selbst, ohne Ein­schrän­kung, dem Willen der Gemein­schaft auf. Es entäußert sich aller sei­ner urs­prün­gli­chen Rechte — und eben diese Entäuße­rung ist es, die das oberste Prin­zip der Rous­seau­schen Staats­theo­rie bil­det.“ (Cas­si­rer, 2022, S. 11)

Be the first to comment

Leave a Reply