„Die einfachen Leute dürfen nicht reden“, warnt Jorge von Burgos, der blinde Wächter der Klosterbibliothek in Umberto Ecos Roman Der Name der Rose. Und sie dürfen vor allem auch nicht die falschen Bücher lesen. Die falschen Bücher, so der Bibliothekar Jorge, hätten „den Gedanken rechtfertigen können, die Sprache der einfachen Leute sei Trägerin einer Wahrheit. Das musste verhindert werden, und das habe ich getan. Du sagst, ich sei der Teufel. Du irrst : Ich bin die Hand Gottes gewesen.“
Die Zensur ist wahlweise die Hand Gottes und die seiner Repräsentanten, die des Staats und seiner Experten oder die der Medien. Sie möchten die „einfachen Leute“ vor deren Ignoranz und den daraus resultierenden Unwahrheiten schützen. Zensur ist in dieser Hinsicht ein politisch wichtiger und ein moralisch wertvoller Akt : Sie dient dem Gemeinwohl.
Daran erinnerte kürzlich Thierry Breton, der Kommissar des europäischen Binnenmarktes, während eines Interviews auf France Info. Breton, einer der mächtigsten Männer Frankreichs seit den späten 1990er-Jahren, hat kürzlich seine Karriere in Großindustrie und Politik mit der Ernennung zum EU-Kommissar für Binnenmarkt und Industriepolitik in Brüssel fortgesetzt. Seit 2020 widmet er sich hier seiner neuen Berufung : „Ich bin der Regulator“, erklärte er kürzlich in autoritärem Duktus vor den Journalisten des öffentlich-rechtlichen Radios France Info.
Bereits im Januar 2022 hatte Breton in einer Rede im EU-Parlament versprochen, dass es mit dem „Wilden Westen“ im Internet bald ein Ende haben würde. Damals nahm Breton den Schein-Angriff auf das Capitol in Washington als Beispiel dafür, welche verheerenden Wirkungen unüberwachte und nicht-reglementierte elektronische Plattformen haben können.
Mit der Bekämpfung von „falscher“ und „böswilliger“ richtiger Information wollte Breton schon damals die EU zum „Maßstab der Demokratien auf der ganzen Welt“ machen.
Der große Lümmel des Volkes sollte von politisch kooptieren Regulatoren und deren Wahrheitsexperten zum geordneten Schweigen gebracht werden. Keine politische Freiheit ohne Bevormundung. Und keine politische oder wissenschaftliche Wahrheit ohne Zensur : Die Wunderwaffe Bretons heißt Digital Services Act (DSA). Sie soll die digitalen Medien dazu veranlassen, hasserfüllte oder falsche Inhalte „sofort“ zu löschen.
Die Erweiterung der Zensurzone
Im kanonischen Recht des Mittelalters war Zensur, so definiert sie der Historiker Martin Laurent, „jene Gesamtheit von Regeln, Vorschriften, Disziplinen und Zwangsmaßnahmen, mit denen heterodoxes, abweichendes Sprechen oder Denken verhindert und das Monopol der ‚geraden Linie‘ gesichert werden kann.“
Hört man auf den neuen europäischen Regulator, scheint diese Definition erstaunlich zeitgemäß. Denn Zensur ist selbstverständlich immer Zensur der anderen ; derjenigen, die nicht so denken wie „wir“.
Auch der DSA dient dem Zweck, diejenigen, die von der „geraden Linie“ der EU oder der nationalen Regierungen abweichen, zum Schweigen zu bringen. Man beachte dabei die regulatorischen Grundfunktionen des DSA : Während seine Vertreter vorwiegend auf der rechtlichen Absicherung des europäischen Marktes insistieren, hat er vor allem auch die Funktion der repressiven Krisenbewältigung.
Mit der neuen Zensur beschränkt sich das Löschen von unerwünschter Information und unzulässigen Gedanken nicht auf Hassreden, auf angebliche „Unwahrheiten“ oder politisch ungeeigneter Information. Und es beschränkt sich nicht auf die sogenannten „sozialen Medien“, mit denen es fast ausschließlich in Verbindung gebracht wird.
Die europäischen Zensoren haben viel weitergedacht als Facebook, Twitter und TikTok. Denn dank des DSA können alle digitalen Medien – auch alle traditionellen Medien, die Inhalte auf dem Internet veröffentlichen – falls gewünscht, sofort zum Schweigen gebracht und europaweit „abgeschaltet“ werden.
Die Säuberung der „Informationsverschmutzung“
Die Zensurmaßnahmen, betont Breton ausdrücklich in seinem Interview, gelten für jegliche Art von Desinformation, Falschinformation (misinformation) und schädlicher Information (malinformation).
Das heißt, diese Maßnahmen gelten auch für Informationen, die nicht hasserfüllt oder zur Gewalt aufrufend, die nicht falsch oder irreführend, sondern „tatsächliche oder vorhersehbare negative Auswirkungen auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit, von Minderjährigen, des zivilen Diskurses oder Auswirkungen auf Wahlprozesse und die öffentliche Sicherheit“ (DSA, Art. 57) bewirken könnten.
Diese Arten von Informationsstörung bezeichnet die EU-Kommission als „Informationsverschmutzung“. Und der DSA soll demenstrpechend der Säuberung und dem Schutz der Information vor dieser Verunreinigung dienen.
Damit die Säuberung der digitalen Informationskultur aber nicht den Verschwörungstheorien und dem propagandistischen Meinungsmissbrauch hinterherlaufen muss, wird Bretons Regulation darüber hinaus ex-ante wirken. Ex ante heißt : Die Herausgeber und Verteiler von Inhalten müssen im Voraus, aufgrund von Annahmen und Vorhersagen, auf mögliche falsche Informationen und negative Auswirkungen von richtigen Informationen reagieren.
Damit hat sich der Regulator einen beeindruckenden Handlungsspielraum für seine Zensur zurecht reguliert : Jegliche Information, die er als falsch oder fehlgeleitet ansieht und die seiner Ansicht nach tatsächliche oder vorhersehbare negative Auswirkungen haben könnte, soll nicht nur „äußerst schnell“ eliminiert werden. Viel besser noch : sie soll von den Herausgebern digitaler Inhalte beseitigt werden, noch ehe sie veröffentlicht werden.
Politik der Wahrheit
In der Politikwissenschaft und der politischen Philosophie gilt gemeinhin, dass liberale Demokratien, im Gegensatz zu autoritären Regimen, auf politische Wahrheitsregulation verzichten. Wenn die Demokratie durch Wahrheitsbestimmungen normativ reguliert wird, wenn die Wahrheit in der Demokratie nicht mehr auf der Grundlage einer freien öffentlichen Debatte steht, die sich im Kontext von Meinungs- und Pressefreiheit abspielt, ist die minimale Bedingung liberaler Demokratie nicht mehr gegeben.
Ohne „Skepsis gegenüber eigenen Überzeugungen“ und „Respekt gegenüber dem opponierenden Argument“, schreibt der Philosoph und ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin, ist das Ethos „der lebensweltlichen Verständigungspraxis“, auf dem sowohl die moderne Wissenschaft als auch unsere politische Kommunikation beruht, ausgelöscht. (Nida-Rümelin, 2006)
Mit der Abwehr scheinbar falscher, opponierender Argumente und der Gedanken mit möglichen schädlichen Auswirkungen gewährt der DSA dann gerade nicht den „Maßstab der Demokratien auf der ganzen Welt“, sondern den Eintritt der EU in die Reihe der illiberalen Demokratien.
Die Presse gegen die Pressefreiheit
Nachdem ich diese Kritik der Redaktion eines nationalen Wochenblatts vorgelegt hatte, wurde mir vom Chefredakteur mitgeteilt, dass meine Argumentation nicht für eine Veröffentlichung geeignet sei. Die schriftliche Beanstandung meiner Kritik war, dass ich der Zensur der neuen europäischen Regulation nicht gerecht würde.
Meine Kritik wäre deshalb ungerecht, so der Redakteur, weil Desinformation, Falschinformation und schädliche Information illiberale Tendenzen „stimulieren“ würden. Deshalb soll Zensur der Meinung und der Medien auch verteidigt werden.
Nach dem beruflichen Selbstverständnis dieser Journalisten soll es Meinungs- und Pressefreiheit also nur für diejenigen geben, die sich auf der „geraden Linie“ befinden. Zensur und Verbot sind jedoch zu unterstützen, wenn sie diejenigen treffen, die die richtige politische Ideologie, oder die als Wahrheit angenommene Information kritisieren. Die Hölle sind immer die anderen.
Eine solche Ablehnung der Meinungsfreiheit und damit der Idee der liberalen Demokratie von links ist spätestens seit den Pandemiejahren nicht mehr verwunderlich. Und die journalistische Verteidigung der Zensur könnte sich hier sogar auf bekannte Vordenker stützen.
Befreiende Toleranz, hieß es schon in der doppelten Moral der linken Aktivisten der 70er-Jahre, bedingt „Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts“ und „Duldung von Bewegungen von links“ (Herbert Marcuse). Wie in der mittelalterlichen Kirchenzensur galt also auch hier das Prinzip der befreienden Toleranz denen gegenüber, die so denken wie „wir“ und der repressiven Intoleranz für politische Gegner.
Nun sollte man unseren Journalisten aber nicht unbedingt eine tiefere Kenntnis des politischen Denkens und seiner Geschichte unterstellen. Eine einfachere Erklärung scheint hier zutreffender zu sein : der Existenzkampf einer Presse, die ohne staatliche Unterstützung in ihrer aktuellen Form kaum überlebensfähig wären, dürften die Entwicklung von kleineren, unabhängigen, kritischen Medien mit größter Sorge verfolgen.
Die vorauseilende Anpassung an staatlich-institutionelle Zensur, die vorrangig diese „alternativen“ Medien treffen soll, ist somit auch Abwehrkampf gegen eine Konkurrenz, die nicht im Feld der gegenseitigen Abhängigkeiten von Medien und Politik spielt. Die selbstauferlegte „Schere im Kopf“ einiger Journalisten muss deshalb nicht einmal staatstragender Ideologie entstammen. Es genügt das intuitive Verständnis, dass man nicht an dem Ast sägt, auf dem man sitzt.
Literatur
Breton Thierry. Juli 2023. „ Violences urbaines : ‚Non, les réseaux sociaux n’ont pas fait assez pendant ce moment !‘, (https://www.francetvinfo.fr/faits-divers/adolescent-tue-par-un-policier-a-nanterre/video-emeutes-non-les-reseaux-sociaux-n-ont-pas-fait-assez-pendant-ce-moment-declare-sur-franceinfo-thierry-breton-commissaire-europeen_5941784.html)
Martin, Laurent, Hrsg. 2018. Les censures dans le monde : XIXe- XXIe siècle. Rennes : Presses universitaires de Rennes.
Miliopoulos, Lazaros. 2016. „Wahrheit“. in Umkämpfte Begriffe, Hrsg. G. Flümann. Bonn : Bundeszentrale für politische Bildung.
Nida-Rümelin, Julian. 2006. „Philosophische vs. politische Vernunft oder Demokratie und Wahrheit“, in : Otfried Höffe (Hrsg.), Vernunft oder Macht ? Zum Verhältnis von Philosophie und Politik. Tübingen.
Wardle, Claire, und Hossein Derakhshan. 2019. INFORMATION DISORDER : Toward an interdisciplinary framework for research and policy making. Council of Europe Report. Straßburg.
Zakaria, Fareed. 1997. „The Rise of Illiberal Democracy“. Foreign Affairs 76(6):22 – 43.
Zakaria, Fareed. 2002. „Illiberal Democracy Five Years Later : Democracy’s Fate in the 21st Century“. Harvard International Review 24(2):44 – 48.