Ist das Böse banal ?

Gedanken zu Jonathan Glazers The Zone of Interest (2024)

Diesseits der Mauer

Ein son­ni­ger Som­mer­nach­mit­tag. Fami­lie Höß sitzt beim Sonn­tag­saus­flug auf einer Wiese in Seenähe. Die Mut­ter küm­mert sich um die spie­len­den Kin­der. Man lacht, man isst, man rennt umher, man schreit vor Ver­gnü­gen. Der Vater steht etwas abseits, breit­bei­nig, die Hände in die Hüf­ten ges­temmt, den Blick abwe­send in die Ferne gerich­tet.
Ein paar Momente spä­ter : Die Mut­ter pflückt wilde Früchte mit den Mäd­chen. Der Vater, unten am See, Hände in den Hüf­ten, abwe­sen­der Blick, ist bei den Jungs. Die rau­fen, wer­fen einan­der ins Was­ser, lachen, quiet­schen vor Freude, suchen ver­ge­bens den aner­ken­nen­den Blick des Vaters.
Woran denkt die­ser Mann ? Denkt er übe­rhaupt ?
In die­ser Posi­tion wird man den Mann noch ein­mal im Film sehen, wenn man weiß, wer die­ser abwe­sende, aber lie­be­volle Vater und Ehe­mann ist, der sei­nen Töch­tern abends am Bett Mär­chen vor­liest und vor dem Ein­schla­fen mit sei­ner Frau von schö­nen Ita­lien­rei­sen träumt.
Die zweite Szene, in der er, wie am Seeu­fer, mit in die Hüf­ten ges­temm­ten Hän­den zu sehen ist, ist zugleich die ein­zige Szene, die inne­rhalb der Mauern des Ver­nich­tungs­la­gers spielt. In der Uni­form des Obers­turm­bannfüh­rers, in einem dich­ten Nebel­meer, aus dem die ent­setz­lichs­ten Schreie und Schüsse drin­gen, scheint der Fami­lien­va­ter wie­der wie abwe­send. Abwe­send von den Gräuel­ta­ten, die um ihn herum unter sei­ner Füh­rung began­gen wer­den. Der Zuschauer kennt die alp­traum­haf­ten Erei­gnisse, inmit­ten derer Höß teils unberührt, teils ange­wi­dert in eine unbe­grei­fliche Leere blickt.
Der Mann, den Gla­zers Ins­ze­nie­rung zuerst als net­ten Fami­lien­va­ter dars­tellt, ist nie­mands anderes als der Lager­kom­man­dant von Ausch­witz, Rudolf Höß. Höß war im März 1941 von Hein­rich Himm­ler höchst­persön­lich – Auf­trag direkt von Hit­ler – mit dem Auf­bau und der Lei­tung des größ­ten Ver­nich­tungs­la­gers der Welt­ges­chichte beauf­tragt wor­den (Hil­berg, Bd. III, S. 881). Höß war nach eige­nen Anga­ben im Nürn­ber­ger Pro­zess direkt für die Ermor­dung von bis zu 2,5 Mil­lio­nen Juden verant­wort­lich (Gil­bert, 1961, S. 229).
Er war es auch, der ab Herbst 1941 den Ein­satz von Blausäure-Pel­lets der Fir­ma Tesch & Sta­be­now – Inter­na­tio­nale Gesell­schaft für Schäd­ling­sbekämp­fung m.b.h. – wegen ihrer Wirk­sam­keit für den sys­te­ma­ti­schen Ein­satz zum qual­vol­len Ers­ti­ckung­stod in den vor­getäu­sch­ten Duschräu­men von Ausch­witz veran­lasste.
Das ist, in aller Kürze, das Prin­zip des Sze­na­rios, das Jona­than Gla­zer den Zuschauern seines Films zumu­tet. Wäh­rend Vater Höß beru­flich damit bes­chäf­tigt ist, am Tag bis zu 10’000 Juden (nach eige­nen Aus­sa­gen) zu ermor­den und mit deut­scher Inge­nieurs­kunst – mit den Drei­muf­felö­fen der Fir­ma J. A. Topf & Söhne – 24 Stun­den am Tag ein­zuä­schern, küm­mert sich Mut­ter Höß warm­her­zig um die fünf Kin­der, den pracht­vol­len Gar­ten und das kleine Frei­luft­plan­sch­be­cken am Rand der Lager­mauer. Gla­zer filmt das Kleinbür­ger­le­ben der sozia­len Auf­stei­ger vor dem Hin­ter­grund des Grauens, das man hin­ter der Lager­mauer zwar nie sieht, aber den­noch jeder­zeit hört.
Der Zuschauer ist so von Anfang an der uner­trä­gli­chen Situa­tion aus­ge­setzt zu sehen, wie per­fekt die Fami­lie Höß die Schreie des Lei­dens, Fol­terns und Mor­dens, die über die Lager­mauer drin­gen, übe­rhört. Das schauer­liche Brum­men der Öfen, die Schüsse, das Ges­chrei der Mör­der und die Auf­schreie der Oper schei­nen im Gar­ten­pa­ra­dies weder für die Fami­lie noch für ihre Besu­cher zu exis­tie­ren. Das Blut, das an Vaters Stie­fel klebt, wenn er zum Aben­des­sen nach Hause kommt, sieht nur der Diener, der sie im Ver­bor­ge­nen abwa­schen muss.
Das Para­dies der net­ten blon­den Fami­lie mit ihrem bie­de­ren All­tag dies­seits der Mauer nährt sich vom unfass­ba­ren indus­triel­len Mord an Mil­lio­nen Men­schen jen­seits der Mauer.

Die Banalität des Bösen

Auf den ers­ten Blick erscheint Gla­zers Film wie eine kon­se­quente Anwen­dung von Han­nah Arendts Begriff der „Bana­lität des Bösen“ aus der Täter­pers­pek­tive. Der Name des Begriffs ist in der Zwi­schen­zeit zu bekannt, zu abge­grif­fen und abge­tra­gen, um an den Skan­dal zu erin­nern, den er bei der Veröf­fent­li­chung von Arendts Arti­keln über den Eich­mann-Pro­zess im New Yor­ker Maga­zin 1961 verur­sachte. Die Bana­lität des Bösen wurde selbst zur Bana­lität. Aber The Zone of Inter­est bringt es wie wenige Filme oder Bücher fer­tig, diese Bana­lität in ihrem gan­zen Erschre­cken noch ein­mal aufleuch­ten zu las­sen.
Wie ist es möglich, dass der Verant­wort­liche für die Ver­nich­tungs­la­ger von Ausch­witz, des­sen Taten jede noch so anges­trengte Vors­tel­lung­skraft übers­tei­gen, ein Pri­vat­le­ben führt, das sich in nichts von dem eines durch­sch­nit­tli­chen fried­fer­ti­gen hohen Staats­beam­ten unter­schei­det ?
Arendt wollte mit dem Oxy­mo­ron der „Bana­lität des Bösen“ selbst­verständ­lich nicht aus­drü­cken, dass das Böse oder gar der Holo­caust in irgen­dei­ner Weise banal seien. Banal sollte, in Arendts Pers­pek­tive, die Per­son des beam­te­ten Ver­wal­ters des Holo­causts sein. Die Bana­lität des Bösen war auf die Per­son von Adolf Eich­mann bezo­gen und, mit ihm, auf einen Typus von Men­schen, der beim Erfül­len sei­ner beru­fli­chen Pflicht nicht an das zu den­ken ver­mag, was er tut. Der Typus vom Men­schen, den Arendt zeich­nen wollte, war der des „Schreib­ti­schtä­ters“, ein Mas­senmör­der „der kein spe­zi­fisches Unrechts­be­wusst­sein auf­zu­brin­gen ver­mochte“ (Arendt, 2012, S. 20). Ein Mensch, so Arendt, der unfä­hig ist zu den­ken.
Die größ­ten Unmen­schen der Men­sch­heits­ges­chichte, so Arendt, seien banale Beamte gewe­sen, ohne Ideen, aber mit wich­ti­gen Ämtern, ohne Ein­sicht, aber mit größ­ter Effi­zienz, ohne Cha­ris­ma, aber mit ehr­gei­zi­ger Arbeit­se­thik : „Eich­mann“, schreibt Han­nah Arendt, „war nicht Jago und nicht Mac­beth, und nichts hätte ihm fer­ner gele­gen, als mit Richard III. zu bes­chließen, »ein Böse­wicht zu wer­den«“ (ebd., S. 56). Eich­mann war für Arendt, genau­so wie Hit­ler selbst, kein Sha­kes­pea­res­cher Böse­wicht, kein Mil­ton­scher Satan, son­dern ein lächer­li­cher „Clown“ (Young-Bruehl, 1982, S. 331).
Men­schen wie Eich­mann, so Arendt, seien weder sadis­tisch moti­viert, noch hät­ten sie „böse Triebe“ im All­ge­mei­nen oder einen Hass auf Juden im Beson­de­ren. Das ein­zige Motiv des „Ver­wal­tungs­mas­senmör­ders“ Eich­mann sei gewe­sen, dass er als ehr­gei­zi­ger Beam­ter nach beru­fli­chem Auf­stieg, höhe­ren Posi­tio­nen und größe­rer Aner­ken­nung durch die Hie­rar­chie strebte. Eich­mann, der seine Kar­riere im Auge hatte, habe ab 1941 vom Reichs­si­che­rheit­shaup­tamt in Ber­lin aus die Ermor­dung der europäi­schen Juden orga­ni­siert, ohne jede Mord­lust, ohne jeden Mord­stolz, ohne jeden Judenhass.

Die unangemessene Banalität

Es ist viel­leicht einer der über­ra­schend­sten und verstö­rend­sten Ein­drücke von Gla­zers The Zone of Inter­est, dass er glei­ch­zei­tig den von Arendt inten­dier­ten Hor­ror der „Bana­lität“ des Bösen zeigt und den Betrach­ter doch nicht mit dem Gefühl zurü­cklässt, das bereits Vers­tan­dene ledi­glich aus einer neuen Pers­pek­tive zu erle­ben.
So banal der All­tag der Fami­lie Höß in sei­ner Dars­tel­lung erscheint, so schnell wird dem Betrach­ter näm­lich klar, dass diese Bana­lität selbst nur eine Dars­tel­lung ist. Eine Dars­tel­lung, die davon lebt, dass das wirk­liche Grauen nach Kräf­ten igno­riert wird. Zur Bana­lität des Bösen gehört, dass die Bana­lität selbst nur die gro­teske Ver­schleie­rung des Unsag­ba­ren ist.
So ver­mag es Gla­zer die in der Zwi­schen­zeit gut doku­men­tierte Fehls­pe­ku­la­tion von Han­nah Arendt über die Nazitä­ter mit in seine fil­mische Dars­tel­lung hinein­zu­neh­men. Das Böse ist nicht banal und auch die dar­ges­tell­ten Bösen sind es in kei­ner­lei Hin­sicht (S. Adler, 2017, Par­vik­ko 2021). Was bei Arendts Dars­tel­lung von Eich­mann als Schreib­ti­schtä­ter viel­leicht noch glaubwür­dig erschei­nen mochte, lässt sich im Falle des Lager­kom­man­dan­ten Höß nicht ein­mal mehr vortäu­schen.
Arendt, die in Wirk­li­ch­keit nur knapp der Hälfte der Sit­zun­gen des ers­ten Eich­mann-Pro­zesses bei­wohnte, jedes Ges­präch mit dem Che­fanklä­ger und den ande­ren Anklägern_ verweigerte_ und auch im Revi­sions­pro­zess nicht mehr anwe­send war, hat zwar ein „Meis­ter­werk der Fik­tion“ (Adler, 2017, S. 76) vor­ge­legt, sich aber letzt­lich von der Selbst­dars­tel­lung Eich­manns unter der Regie der Ver­tei­di­ger blen­den las­sen.
Eich­manns „Cha­rak­ter“ des gedan­ken- und gefühl­lo­sen „Rads in der Maschine“ war näm­lich bloß eine Wie­de­rho­lung der Ver­tei­di­gung­ss­tra­te­gie der Nürn­ber­ger Pro­zesse (1945 – 46). Als der Pro­zess ver­lo­ren war und Eich­mann die Maske sei­ner Cha­rak­ter­fi­gur nie­der­legte, ver­deut­lichte er sei­nem Anwalt mit kla­ren Wor­ten, was er vom gedan­ken­lo­sen Befehls­be­fol­ger hielt : „Ich kann das Wort ‚Rad‘ nicht mehr hören, denn es ist nicht wahr“ (Ger­lach, 2001).
Gus­tave Gil­bert, der ame­ri­ka­nische Psy­cho­loge, der sich wäh­rend der Nürn­ber­ger Pro­zesse aus­gie­big mit den hohen Nazi­beam­ten unte­rhal­ten hatte, zeich­nete ein ents­pre­chend befrem­dendes Por­trät vom 46-jäh­ri­gen Rudolf Höß. Als Reak­tion auf Her­mann Görings Unglau­ben am Aus­maß der tägli­chen Ver­nich­tung in Ausch­witz (s. Gil­bert, 1961, S. 229) erklärte Höß dem Psy­cho­lo­gen, dass es „tech­nisch“ nicht nur keine Schwie­rig­keit dars­tellte, 10‘000 Men­schen am Tag zu ermor­den und ein­zuä­schern, son­dern dass es möglich gewe­sen wäre, noch mehr zu töten. Zur Frage der Men­schli­ch­keit oder Unmen­schli­ch­keit sei­ner Taten ant­wor­tete der Lager­kom­man­dant von Ausch­witz dann nur kurz : „Das hat damit nichts zu tun.“ (Gil­bert, 1961, S. 230)
Arendts schrifts­tel­le­risches Ver­dienst war es zwei­fel­los, den über 1200 Sei­ten von Raul Hil­bergs Stu­die Die Ver­nich­tung der europäi­schen Juden ein thea­tra­li­siertes, per­so­ni­fi­ziertes Gesicht von meta­phy­si­scher Trag­weite gege­ben zu haben. Das Bild, das Gla­zer zeich­net, ist jedoch dif­fe­ren­zier­ter und verstö­ren­der als Arendts erfun­dene Figur und näher an Hil­bergs empi­ri­schen Unter­su­chun­gen. Psy­cho­lo­gische Erklä­run­gen, auch wenn sie, wie bei Arendt, zu phi­lo­so­phisch-begrif­fli­cher All­ge­mein­heit zuges­pitzt wer­den, kön­nen nie­mals erklä­ren, wie Men­schen wie Eich­mann oder Höß zu den Gräuel­ta­ten fähig waren, die sie über Jahre hin­weg sys­te­ma­tisch, mit Eifer und Stolz begin­gen.
Der indus­trielle Völ­ker­mord ist undenk­bar ohne die Mobi­li­sie­rung des „tota­len Staates“, des­sen admi­nis­tra­tive Herr­schafts­ge­walt sich unein­ges­chränkt auf das gesamte gesell­schaft­liche Leben ers­treckt. Staat, Indus­trie und Finanz­we­sen waren im natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Völ­ker­mord zu der vor­ge­bli­chen gemein­sa­men und ein­heit­li­chen Mis­sion ver­bun­den, den Staat zu schüt­zen und das deutsche Volk gegen seine Feinde zu ver­tei­di­gen.
Selbst­verständ­lich fun­gier­ten die Beam­ten des Nazi-Staats auch als Räder in der „Zerstö­rung­sma­schine“ (Hil­berg). Aber die alles dur­ch­drin­gende NSDAP ver­lieh den Füh­rung­skräf­ten einen Idea­lis­mus, „ein Gefühl der ‚Mis­sion‘ und eine Vision, Ges­chichte zu schrei­ben“ (Hil­berg Bd. I, 1985, S. 62), mit denen Leute wie Eich­mann und Höß nicht bloß gedan­ken- und verant­wor­tungs­los Befehle ausführ­ten. Der Völ­ker­mord war für sie eine Beru­fung, ein Lebens­sinn, den sie hochmü­tig mit Stolz und Hin­gabe ausführ­ten. Das hat Gla­zer in sei­ner Ins­ze­nie­rung des Rudolf Höß nicht ver­ges­sen. Gla­zers Lager­kom­man­dant ist kein gedan­ken­lo­ser Clown. Er weiß, was er tut, bis hin zu den kur­zen Zuckun­gen von „Unrechts­be­wusst­sein“ am Ende des Films.
Bei sei­ner Rede zum Lite­ra­tur­no­bel­preis von 2002 erin­nerte Imre Ker­tész daran, dass „seit Ausch­witz nichts ges­che­hen ist, was Ausch­witz auf­ge­ho­ben, was Ausch­witz wider­legt hätte.“ Diese Erin­ne­rung aus der Ver­gan­gen­heit erklärt auch das uner­trä­gliche Gefühl, mit dem The Zone of Inter­est seine Zuschauer in der Gegen­wart zurücklässt.

Bibliographie

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