Die Moral der luxemburger Medien

(Erwei­terte Fas­sung der im Tage­blatt vom 13. Januar 2022 erschie­nen Gegen­dars­tel­lung)

„Was wir über unsere Gesell­schaft, ja über die Welt, in der wir leben, wis­sen, wis­sen wir durch die Mas­sen­me­dien.” (Nik­las Luh­mann. 1996. Die Rea­lität der Mas­sen­me­dien. West­deut­scher Ver­lag, Opla­den, S. 9)

Im Dezem­ber veröf­fent­lichte das Tage­blatt meh­rere Arti­kel, die den Lesern hel­fen soll­ten, die „Schwur­bels­zene”, „alter­na­tive Medien” und „Ver­schwö­rung­stheo­rien” zu erken­nen und ein­zuord­nen. In die­ser Absicht wur­den am 15. Dezem­ber zum wie­de­rhol­ten Mal die Web­seite von Expres­sis Ver­bis, ohne Rück­sicht auf ihre tatsä­chliche Orien­tie­rung, deren veröf­fent­lich­ten Arti­kel und Auto­ren, als Bei­spiel eines derar­ti­gen alter­na­ti­ven Mediums vor­geführt. Dort wür­den, so der Tage­blatt-Autor, die „wir­ren Ansich­ten von pro­mo­vier­ten, aber hochum­strit­te­nen Exper­ten” ver­brei­tet. (Tage­blatt Nr. 292, S.5) Expres­sis Ver­bis sollte dann auch als Bei­spiel für die kri­tische Exper­te­naus­sage eines Phi­lo­so­phie­pro­fes­sors der Uni­ver­sität Luxem­burg herhal­ten und als War­nung dienen, dass „reiße­rische Auf­ma­chung, sim­pli­zis­tische Über­schrif­ten […] und Pau­scha­li­sie­run­gen […] gute Indi­zien“ seien „für nicht seriöse Inhalte“.

Eine persön­liche Nach­frage beim zitier­ten Exper­ten hat unter­des­sen den Ver­dacht bestä­tigt, dass des­sen Aus­sa­gen nicht im Min­des­ten auf Expres­sis Ver­bis bezo­gen waren, da der zitierte Phi­lo­so­phie­pro­fes­sor nach eige­nen Aus­sa­gen die Web­seite von Expres­sis Ver­bis nicht ein­mal kannte.

Ein Grund also, uns noch­mals die „Tech­ni­ken und Tricks” ver­schie­de­ner Tage­blatt Auto­ren im all­ge­mei­ne­ren Kon­text der luxem­bur­gi­schen Berich­ters­tat­tun­gen der Coro­na-Pro­teste und der soge­nann­ten „alter­na­ti­ven Medien” näher anzuschauen.

Vor 4 Mona­ten begann in Luxem­burg eine Serie von Erei­gnis­sen, die sich so in der kur­zen Ges­chichte der klei­nen Monar­chie noch nicht erei­gnet hatte. Zuerst ver­sam­mel­ten sich 500, dann 1000 und schließ­lich 4000 Per­so­nen jeden Frei­ta­ga­bend, um schwei­gend und fried­lich vom Euro­pa­platz zum Jus­tiz­pa­last und der Abgeord­ne­ten­kam­mer zu marschieren.

Wer diese Märsche orga­ni­sierte, bleibt bis heute, trotz unzäh­li­ger Pran­ger- und Schmäh-Arti­kel unk­lar. Der media­len Demü­ti­gung­slust der selbst ernann­ten Rich­ter – wo ein Klä­ger, da ein Rich­ter – gelang es jedoch gezielt, die Frage nach den Moti­va­tio­nen der Marschteil­neh­mer mit der vers­tie­ge­nen Suche nach ver­meint­li­chen Verant­wort­li­chen zu verschleiern.

Zu ermit­teln, was tau­sende Leute jeden Frei­tag wirk­lich veran­lasste auf die Straße zu gehen, wer diese Leute waren oder wofür sie eins­tan­den, kam den wenig­sten luxem­bur­ger Jour­na­lis­ten in den Sinn. Aus einem unbe­kann­ten Grund schien sich der fast gesamte Beruf­ss­tand noch vor jeder Unter­su­chung darü­ber im Kla­ren zu sein, dass es sich bei sol­chen Ges­che­hen nur um Bekun­dun­gen von „radi­ka­li­sier­ten Paral­lel­wel­ten“ (Repor­ter vom 1. Dezem­ber 2021) han­deln könne.

So wäg­ten sich schon die alle­rers­ten Dars­tel­lun­gen der Märsche in der unz­wei­fel­haf­ten Siche­rheit, es könne sich bei den Teil­neh­mern nur um falsch infor­mierte „Ver­schwö­rung­stheo­re­ti­ker” han­deln, die darü­ber hinaus von „extre­mis­ti­schen Struk­tu­ren unter­wan­dert und ins­tru­men­ta­li­siert“ wor­den seien.

Folgte man sol­chen Ausfüh­run­gen, müsste man glau­ben, in Luxem­burg wären inne­rhalb von ein paar Wochen tau­sende von bisher kri­mi­nell oder poli­tisch unauffäl­li­gen Mitbür­gern in ihrem Den­ken, Erle­ben und Füh­len von dunk­len Mäch­ten umer­zo­gen, und zu Hass, Gewalt­ta­ten, Nazis­mus und Anti­se­mi­tis­mus mani­pu­liert wor­den. Eine andere Erklä­rung die­ser Ansicht wäre selbst­verständ­lich, dass bei Coro­na-Fra­gen Ver­schwö­rung­stheo­rien auch in Jour­na­lis­ten- und Exper­ten­krei­sen nicht sel­te­ner heran­rei­fen, als bei den schein­bar „selt­sa­men Rand­ges­tal­ten“ der Pro­tes­tie­ren­den (Tage­blatt Nr. 266 vom 15. Novem­ber 2021, S. 4).

In dem viel­leicht ein­zi­gen, aber den­noch fehl­ges­chla­ge­nen Ver­such, die Beweg­gründe der Demons­trie­ren­den nicht aus der Dis­tanz ideo­lo­gi­sier­ter Redak­tionsräume, son­dern durch Ges­präche vor Ort zu erkun­den, konnte ein Land Jour­na­list (Land vom 22. Okto­ber 2021), ähn­lich wie die For­scher der Luxem­bur­ger Uni­ver­sität, nur die schil­lernde Viel­falt der Teil­neh­mer fests­tel­len. Demun­geach­tet kam auch die­ser Jour­na­list nicht umhin, wie seine Kol­le­gen das auch ohne Ges­präche mit den Betei­lig­ten unters­tell­ten, die Masse mit dem verein­heit­li­chen­den Aus­gren­zung­sbe­griff der Anti­vaxxer zu charakterisieren.

Selbst­verständ­lich kann er sich dabei an die leicht revi­dierte Anti­vaxx Defi­ni­tion des Mer­riam-Webs­ter Wör­ter­buchs anleh­nen, die den Begriff defi­nierte als „eine Per­son, die sich gegen die Ver­wen­dung von Impf­stof­fen oder gegen Vor­schrif­ten, die eine Imp­fung vor­schrei­ben, auss­pricht”. Damit wird inter­es­san­ter­weise jegliche Kri­tik an der aktuel­len Gesund­heits­po­li­tik und ihren Skan­da­len zum Aus­druck einer ver­schwö­re­ri­schen „Gegen­kul­tur”. Wenn solche, dem Vorur­teil dien­liche selek­tive Wahr­neh­mung im Nach­hi­nein dann von vereh­ren­den Jour­na­lis­ten-Kol­le­gen als „sozio­lo­gische Ana­lyse“ verklärt wird, sieht man auch hier vor allem, wie weit die Paral­lel­welt der Halb­bil­dung eini­ger Kleins­tad­tin­tel­lek­tuel­len reicht.

Was genau solche jour­na­lis­ti­schen Gemein­plätze bedeu­ten, scheint der damit ver­folg­ten Absicht im Prin­zip aber nebensä­chlich. Denn es geht hier, neben dem übli­chen poli­ti­schen Kalkül der Presse, in ers­ter Linie um das selbs­te­rhö­hende Schmä­hen und Ernie­dri­gen einer ver­meint­lich intel­lek­tuel­len und mora­li­schen Elite, die sich seit dem „Krieg gegen den Ter­ro­ris­mus“ ihrer Macht über Volks- und Poli­tik­beein­flus­sung in Aus­nah­me­si­tua­tio­nen nicht mehr so bewusst war, wie in den letz­ten zwei Jahren.

In die­ser Beru­fung hat sich jedoch keine andere Zei­tung mit einem solch ungestü­men Eifer her­vor­ge­tan wie das Escher Tage­blatt im letz­ten Dezem­ber. Mehr als in ande­ren Luxem­bur­ger Blät­tern, die über auslän­dische und inlän­dische Coro­na-Pro­teste berich­te­ten, fin­det man hier fließende Übergänge von seriö­sem Jour­na­lis­mus zur Bou­le­vard­presse und ihren bekann­ten Tech­ni­ken der poli­ti­schen Hetze.

Der Schwei­ge­marsch und alles, was damit in Ver­bin­dung gebracht wer­den konnte, wurde so zum Schul­bei­spiel von unkri­ti­scher Verall­ge­mei­ne­rung. Hier wur­den sys­te­ma­tisch Rand­merk­male zu Grup­pen­cha­rak­te­ris­ti­ken hochs­ti­li­siert und dadurch in reduk­ti­ver Ver­be­son­de­rung als Cha­rak­te­ris­tik gan­zer Men­schen­grup­pen mobi­li­siert. Und schliess­lich wur­den durch mediale Dis­kri­mi­nie­rung und selek­tive Merk­mal­sauf­nahme alle Fäden der Logik des Sün­den­bocks gezo­gen. Im Anschluss an den bevor­zug­ten, radi­ka­li­sier­ten Wis­sen­schaft­sex­per­ten des Tage­blatts, schei­nen die Escher Schrei­ber über­zeugt zu sein, dass die meis­ten gesell­schaft­li­chen und mora­li­schen Missstände der Pan­de­mie aus­schließ­lich von kri­mi­nel­len Impf­ge­gnern stammen.

In den Dezem­ber-Num­mern des Tage­blatts dur­chexer­ziert so ein selbst ernann­ter „kri­ti­scher“ Qua­litäts­jour­na­lis­mus mit beein­dru­cken­der Einför­mig­keit die Tech­ni­ken der­sel­ben Fal­sch­in­for­ma­tion, die er man­gels über­zeu­gen­der Beweise als Cha­rak­te­ris­tik einer an den Pran­ger ges­tell­ten Mino­rität exal­tiert nach­zu­wei­sen versucht.

Als neu­tra­leres Bei­spiel sol­cher Tech­ni­ken könn­ten die im Tage­blatt dar­ges­tell­ten „Impf­streiks“ in Mai­land, Turin und Triest angeführt wer­den. Anhand von verein­zel­ten Pla­ka­ten und ohne aus­ge­wie­sene Anwe­sen­heit des Kor­res­pon­den­ten an den ver­schie­de­nen Erei­gnis­sen, wer­den hier aber­mals größere Men­schen­mas­sen in meh­re­ren Städ­ten zugleich als recht­sex­trem, anti­se­mi­tisch und Trump-affin aus­ge­zeich­net (Tage­blatt Nr. 272, S. 8).

Tau­sende Teil­neh­mer und hun­derte von unter­schied­li­chen Pla­ka­ten wer­den in die­ser Logik auf eine ein­zige Rand­grup­pen­men­ta­lität verkürzt, die als gemein­sa­mer Nen­ner einer sonst ers­taun­lich merk­mal­sar­men und offen­sicht­lich kons­truier­ten homo­ge­nen Pro­test-Gruppe dienen soll.

Hier fin­det man, in fast völ­li­ger Berüh­rung­slo­sig­keit mit der Wirk­li­ch­keit, das regelmäßig prak­ti­zierte Modell der Berich­ters­tat­tun­gen der Coro­na-Pro­teste, das dann glei­ch­zei­tig auch auf jegliche Kri­tik der pater­na­lis­ti­schen Gesund­heits­po­li­tik ange­wen­det wird.

Eine detaillier­tere Ana­lyse sol­cher als Jour­na­lis­mus getarnte Stim­mung­smache würde den Rah­men dieses Auf­satzes spren­gen. Ein paar Bei­spiele müs­sen für das Ganze genügen.

Am 20. Okto­ber spricht das Tage­blatt, ver­suchs­weise dif­fe­ren­ziert, in einer noch gemäßig­ten Dars­tel­lung von „einer Bewe­gung (…) die hete­ro­ge­ner nicht aus­fal­len“ könnte. Ohne auf den Widers­pruch einer orien­tie­rung­slo­sen „Bewe­gung“ ein­zu­ge­hen, wird die zutref­fende Bes­chrei­bung der Hete­ro­ge­nität trotz aller Vor­sicht auf zwei sich aus­schließende Grup­pen auf­ge­teilt : „radi­kale Impf­ge­gner, Covid-Leu­gner, Popu­lis­ten und Ver­schwö­rung­stheo­re­ti­ker“ einer­seits, und „besorgte Bür­ger, die eine Spal­tung der Gesell­schaft befürch­ten“ andererseits.

Am 16. Dezem­ber wer­den die Schwei­gemärsche dann nur noch ein­sei­tig in Ver­bin­dung mit dem lee­ren Aus­gren­zung­sbe­griff der „Schwur­bler“, und mithilfe einer dazu­gehö­ri­gen ima­ginä­ren „Schwur­bels­zene“ in Ver­bin­dung gebracht. Jegliche Coro­na-Kri­tik, auf der Strasse oder im Text, wird jetzt weit­ge­hend als Aus­druck von wis­sen­schafts­feind­li­cher und recht­sex­tre­mer, anti­de­mo­kra­ti­scher Gesin­nung nach unten nivel­liert. Damit öff­net sich dann auch die Tür der Antisemitismusvorwürfe.

Der Autor dieses Arti­kels, ein Student und selbst bezeich­ne­ter Anti-Popu­lis­mus-Akti­vist, der seine Ana­lyse der „Metho­den und Tak­ti­ken der Luxem­bur­ger Schwur­bels­zene“ größ­ten­teils aus freien Stü­cken und unvers­tan­de­nen Vor­le­sun­gen heraus erfin­det, glaubt bei den Coro­na-Pro­tes­ten die „kla­ren Feind­bil­der, Schwarz-weiß-Den­ken, toxische Hie­rar­chie und grup­pen­be­zo­ge­nen Dis­kri­mi­nie­run­gen“ wie­der­zuer­ken­nen. Unbeach­tet des­sen, dass solch ver­meint­liche ‚Ana­lyse‘ sich der ver­teu­feln­den dis­kur­si­ven Metho­den und Tak­ti­ken selbst aus­gie­big in sei­ner Rea­litäts­ferne bedient, sei daran erin­nert, dass selbst Ange­la Mer­kel ihre Coro­na-Poli­tik mehr­mals als „Zumu­tung für die Demo­kra­tie“ bezeich­nete. Ganz so leicht wie im ambi­tiö­sen Hoch­schu­lauf­satz dürfte die poli­tische Kri­tik an den Maß­nah­men dann doch nicht ein­zuord­nen sein.

Im Edi­to­rial der­sel­ben Aus­gabe lässt es sich auch der neue, pro­mo­vierte Che­fre­dak­teur des Tage­blatts nicht neh­men, die juris­tische Ant­wort eini­ger zu unrecht Angek­lag­ter und an den Pran­ger ges­tell­ter ver­meint­li­cher „Orga­ni­sa­to­ren“ der Märsche im Voraus als Miss­brauch des Luxem­bur­ger Jus­tiz­sys­tems zu dis­qua­li­fi­zie­ren. Mediale Selbst­jus­tiz im Voll­zug : Wer sich gegen das Unrecht wehrt, erweist sich damit als noch schul­di­ger im Sinne der gut gemein­ten Ank­lage. Die Jus­tiz wird sich über so viel jour­na­lis­tische Maß­re­ge­lung gefreut haben.

Dass andere Berich­ters­tat­tun­gen auch im Tage­blatt möglich sind, bewie­sen die Bei­träge von Lucien Mon­te­brus­co und Mar­co Götz. Deshalb scheint es auch nicht klar, ob das Tage­blatt bei die­sen The­men ein dur­ch­dachtes poli­tisches Kalkül verfolgt.

Klar scheint jedoch, dass bei den jün­ge­ren Jour­na­lis­ten die Logik und die Moral des iden­titä­ren Dis­kurses sich mit der Übe­rhe­bli­ch­keit der Uner­fah­re­nen und dem Res­sen­ti­ment der noch nicht Arri­vier­ten unü­ber­legt durch­setzt. Die rhe­to­ri­schen „Tech­ni­ken und Tricks” der jun­gen Repor­ter und stu­den­ti­schen Rekru­ten des Tage­blatts im Kampf für das mora­lische Heil der Nation stam­men dann auch inge­samt aus der Logik und der dün­nen Ideo­lo­gie der iden­titä­ren Politik.

19961 bes­chrieb der englische His­to­ri­ker Eric Hobs­bawm – in tem­pore non sus­pec­to – die iden­titäre Poli­tik in Abgren­zung zur tra­di­tio­nell lin­ken Gesell­schafts­kri­tik als abs­trakt, aus­schließend und pola­ri­sie­rend. Der iden­titäre Dis­kurs, so Hobs­bawm, grün­det auf einer zu Grup­pen­zu­gehö­rig­kei­ten verkürz­ten Iden­titäts­be­haup­tung. Solche iden­titä­ren Grup­pen­zu­gehö­rig­kei­ten wer­den in ers­ter Linie nega­tiv, als Abgren­zung von ande­ren Grup­pen definiert.

Die Welt der iden­titä­ren Logik teilt sich in Dazu­gehö­rige und Außen­sei­ter auf, die wei­ter nichts ver­bin­den soll als ihre gegen­sei­tige Feind­schaft. Damit erschließt sich auch schon die Inhalts­lo­sig­keit der iden­titä­ren Zugehö­rig­kei­ten : „mehr Hemd als Haut”. Solche Iden­titä­ten las­sen sich, so Hobs­bawm zurecht, aus­tau­schen wie Hem­den und vermö­gen es, sich schnell und leicht auf augen­bli­ck­liche ideo­lo­gische Moden einzustellen.

Zugehö­rig­kei­ten sind, wie es Hobs­bawm zutref­fend bes­chreibt, in wech­sel­hafte Kon­texte ein­ge­bet­tet und vermö­gen es mit der glei­chen Inten­sität und dis­kri­mi­nie­ren­den Aggres­si­vität für jegli­chen Aus­schluss Anders­den­ken­der zu kämpfen.

Trotz­dem geht iden­titäres Den­ken durch jeden the­ma­ti­schen Wan­del hin­durch davon aus, dass immer eine oder wenige Iden­titä­ten poli­tisch rele­vant sind : sei es die Reli­gion, die Natio­na­lität oder poli­tische Gruppe oder die sexuelle Orien­tie­rung. Neu ist hier die Rück­kehr der Bio­lo­gi­sie­rung iden­titä­rer Poli­tik, die wie die tra­di­tio­nelle Euge­nik Men­schen nach den medi­zi­ni­schen Qua­litä­ten (geimpft/ungeimpft) in eine mora­li­sie­rende Selek­tion einordnet.

Sicher­lich sind die nai­ven und ges­chicht­lich unin­for­mier­ten Ver­gleiche eini­ger Demons­tran­ten mit der nazis­ti­schen Endlö­sung unan­ge­bracht und ver­wer­flich. Aber die sys­te­ma­tische Praxis der iden­titä­ren Bio­lo­gi­sie­rung von Poli­tik, beson­ders bei Leu­ten, die es bes­ser zu wis­sen vor­ge­ben, scheint den­noch ungleich abs­toßen­der und gefähr­li­cher durch ihre mediale Macht.

Es ist nicht klar auf welches Ter­rain das Tage­blatt und ihr neuer Che­fre­dak­teur die Tra­di­tions­zei­tung hins­teuern wol­len. Aber es wird sicher­lich nicht das Ter­rain des Dia­logs und der ratio­na­len Dis­kus­sion sein. Mehr als andere Luxem­bur­ger Medien hat sich das Tage­blatt im Dezem­ber darum bemüht Gra­ben auf­zu­ma­chen und eigenhän­dig die Spal­tung in die Bevöl­ke­rung zu trei­ben, die dann hin­terrücks einer Mino­rität zuges­chrie­ben wird.

Wie man aus den Dars­tel­lun­gen von Repor­ters sans Fron­tières weiß, „ist die luxem­bur­gische Presse (struk­tu­rell) in ihrem Han­deln durch die begrenzte Größe eines Landes ein­ges­chränkt, in dem ihre Inter­es­sen schnell mit denen der Ent­schei­dung­strä­ger und Wirt­schaft­sa­gen­ten kol­li­die­ren”.2 Selbst­verständ­lich lösen sich in sol­chen Fäl­len Inter­es­se­kol­li­sio­nen gerne in Inter­es­sen­kol­lu­sio­nen auf. Die Frage der poli­ti­schen Befan­gen­heit unse­rer Medien bleibt jeden­falls wäh­rend der aktuel­len poli­ti­schen und media­len Krise drin­gen­der denn je.

Hin­weise auf die Pro­bleme der poli­ti­schen Kor­rup­tion und das daraus ents­te­hende demo­kra­tische Defi­zit kom­men, ent­ge­gen der Anga­ben unse­rer Medien, näm­lich nicht nur von den Kri­ti­kern der ver­meint­li­chen „Schwur­blers­zene”.

In der Dezem­ber-Aus­gabe des Aktuell (#5, 2021, S. 90) for­mu­liert Nora Back, Prä­si­den­tin des OGBL, eine unmiss­verständ­liche Kri­tik an der Regierungspolitik :

Wenn kor­po­ra­tis­tische Lob­byis­ten zu Geset­zes­schrei­bern im Gesund­heits­mi­nis­te­rium wer­den, haben wir ein hand­festes demo­kra­tisches Defi­zit, das im übri­gen den soge­nann­ten „Gesond­heetsdësch“ zur Farce macht. Beson­ders ver­wer­flich ist in die­sem Zusam­men­hang, dass von der Coro­na­krise pro­fi­tiert wird, um so still wie nur möglich höchst kon­tro­verse poli­tische Vorha­ben durchzupeitschen.

Das Verständ­nis davon, dass Gesund­heits­po­li­tik und Kri­sen­ma­na­ge­ment mithilfe der AMMD, des Col­lège Médi­cal (N. Back, loc. cit.) und der Presse nicht nur auf „knall­harte Kom­mer­zia­li­sie­rung unseres Gesund­heits­we­sens” hins­teuern, son­dern dass auch „alles andere poli­tisch Not­wen­dige und Wich­tige, das, wenn keine Pan­de­mie wäre, im Fokus der Poli­tik, der Medien und der öffent­li­chen Dis­kus­sion ste­hen würde, ver­tagt“ wird, sagt klar aus, was in den „Paral­lel­wel­ten” der ver­meint­li­chen Ver­schwö­rung­stheo­re­ti­ker nicht anders gedacht wird.

In per­fek­tem Eink­lang trei­ben Poli­tik, ärzt­liche Inter­es­sen­grup­pen und Presse die Krise als Vor­wand für den Fort­schritt unde­mo­kra­ti­scher Ver­wirt­schaft­li­chung voran. Hier­bei han­delt es sich um das alt­be­kannte neo­li­be­rale Pro­gramm des Mono­pol­ka­pi­ta­lis­mus, ob man es als „pri­vate Kom­mer­zia­li­sie­rung”, vierte indus­trielle Revo­lu­tion, Rif­kin-Pro­zess oder dra­ma­ti­scher als „Great Reset” bezeich­nen mag, bleibt dabei nebensä­chlich. Hin­ter dem Vor­wand der Krise, der aggres­si­ven Mora­li­sie­rung und der inak­zep­ta­bel ins­tru­men­ta­li­sier­ten Anti­se­mi­ti­mus­de­bat­ten zeigt sich hier, dass Ver­schwö­run­gen nicht nur als Theo­rien existieren.

Aus offen­sicht­li­chen Grün­den wer­den solche öffent­lich-pri­va­ten Inter­es­sens­ver­schwö­run­gen von genau den poli­ti­schen und media­len Akteu­ren in volk­ve­rhet­zen­der Manier voran­ge­trie­ben, die sich ange­blich am stärks­ten gegen Ver­schwö­rung­skri­ti­ker wehren.

Auch ohne ein­ge­hendes Stu­dium von Nik­las Luh­manns Medien­theo­rie konnte der deutsche Viro­loge Chris­tian Dros­ten noch Anfang letz­ten Novem­bers bei der Ver­lei­hung eines Medien­preises fests­tel­len, dass „unsere Rea­lität das (ist), was die Medien uns spiegeln.“

Und es wäre zu hof­fen, dass Dros­tens wei­tere Ein­sicht auch bei uns, in viel­leicht nicht all­zu fer­ner Zukunft, Gehör fin­den könnte : „Wir wer­den noch lange zu knab­bern haben an der Aufar­bei­tung der Pan­de­mie. Eine Nach­be­sin­nung ist nicht nur in der Poli­tik und der Wis­sen­schaft, son­dern unbe­dingt auch im Jour­na­lis­mus nötig.“

  1. Hobs­bawm, E. (1996). Iden­ti­ty Poli­tics and the Left. New Left Review, I/217, 38 – 47. ↩︎
  2. S. Luxem­bourg : Sous le coup de la crise de Covid-19 | Repor­ters sans fron­tières. (o. J.). RSF. Abge­ru­fen 8. Januar 2022, von https://​rsf​.org/​f​r​/​l​u​x​e​m​b​o​urg ↩︎