(Erweiterte Fassung der im Tageblatt vom 13. Januar 2022 erschienen Gegendarstellung)
„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.” (Niklas Luhmann. 1996. Die Realität der Massenmedien. Westdeutscher Verlag, Opladen, S. 9)
Im Dezember veröffentlichte das Tageblatt mehrere Artikel, die den Lesern helfen sollten, die „Schwurbelszene”, „alternative Medien” und „Verschwörungstheorien” zu erkennen und einzuordnen. In dieser Absicht wurden am 15. Dezember zum wiederholten Mal die Webseite von Expressis Verbis, ohne Rücksicht auf ihre tatsächliche Orientierung, deren veröffentlichten Artikel und Autoren, als Beispiel eines derartigen alternativen Mediums vorgeführt. Dort würden, so der Tageblatt-Autor, die „wirren Ansichten von promovierten, aber hochumstrittenen Experten” verbreitet. (Tageblatt Nr. 292, S.5) Expressis Verbis sollte dann auch als Beispiel für die kritische Expertenaussage eines Philosophieprofessors der Universität Luxemburg herhalten und als Warnung dienen, dass „reißerische Aufmachung, simplizistische Überschriften […] und Pauschalisierungen […] gute Indizien“ seien „für nicht seriöse Inhalte“.
Eine persönliche Nachfrage beim zitierten Experten hat unterdessen den Verdacht bestätigt, dass dessen Aussagen nicht im Mindesten auf Expressis Verbis bezogen waren, da der zitierte Philosophieprofessor nach eigenen Aussagen die Webseite von Expressis Verbis nicht einmal kannte.
Ein Grund also, uns nochmals die „Techniken und Tricks” verschiedener Tageblatt Autoren im allgemeineren Kontext der luxemburgischen Berichterstattungen der Corona-Proteste und der sogenannten „alternativen Medien” näher anzuschauen.
Vor 4 Monaten begann in Luxemburg eine Serie von Ereignissen, die sich so in der kurzen Geschichte der kleinen Monarchie noch nicht ereignet hatte. Zuerst versammelten sich 500, dann 1000 und schließlich 4000 Personen jeden Freitagabend, um schweigend und friedlich vom Europaplatz zum Justizpalast und der Abgeordnetenkammer zu marschieren.
Wer diese Märsche organisierte, bleibt bis heute, trotz unzähliger Pranger- und Schmäh-Artikel unklar. Der medialen Demütigungslust der selbst ernannten Richter – wo ein Kläger, da ein Richter – gelang es jedoch gezielt, die Frage nach den Motivationen der Marschteilnehmer mit der verstiegenen Suche nach vermeintlichen Verantwortlichen zu verschleiern.
Zu ermitteln, was tausende Leute jeden Freitag wirklich veranlasste auf die Straße zu gehen, wer diese Leute waren oder wofür sie einstanden, kam den wenigsten luxemburger Journalisten in den Sinn. Aus einem unbekannten Grund schien sich der fast gesamte Berufsstand noch vor jeder Untersuchung darüber im Klaren zu sein, dass es sich bei solchen Geschehen nur um Bekundungen von „radikalisierten Parallelwelten“ (Reporter vom 1. Dezember 2021) handeln könne.
So wägten sich schon die allerersten Darstellungen der Märsche in der unzweifelhaften Sicherheit, es könne sich bei den Teilnehmern nur um falsch informierte „Verschwörungstheoretiker” handeln, die darüber hinaus von „extremistischen Strukturen unterwandert und instrumentalisiert“ worden seien.
Folgte man solchen Ausführungen, müsste man glauben, in Luxemburg wären innerhalb von ein paar Wochen tausende von bisher kriminell oder politisch unauffälligen Mitbürgern in ihrem Denken, Erleben und Fühlen von dunklen Mächten umerzogen, und zu Hass, Gewalttaten, Nazismus und Antisemitismus manipuliert worden. Eine andere Erklärung dieser Ansicht wäre selbstverständlich, dass bei Corona-Fragen Verschwörungstheorien auch in Journalisten- und Expertenkreisen nicht seltener heranreifen, als bei den scheinbar „seltsamen Randgestalten“ der Protestierenden (Tageblatt Nr. 266 vom 15. November 2021, S. 4).
In dem vielleicht einzigen, aber dennoch fehlgeschlagenen Versuch, die Beweggründe der Demonstrierenden nicht aus der Distanz ideologisierter Redaktionsräume, sondern durch Gespräche vor Ort zu erkunden, konnte ein Land Journalist (Land vom 22. Oktober 2021), ähnlich wie die Forscher der Luxemburger Universität, nur die schillernde Vielfalt der Teilnehmer feststellen. Demungeachtet kam auch dieser Journalist nicht umhin, wie seine Kollegen das auch ohne Gespräche mit den Beteiligten unterstellten, die Masse mit dem vereinheitlichenden Ausgrenzungsbegriff der Antivaxxer zu charakterisieren.
Selbstverständlich kann er sich dabei an die leicht revidierte Antivaxx Definition des Merriam-Webster Wörterbuchs anlehnen, die den Begriff definierte als „eine Person, die sich gegen die Verwendung von Impfstoffen oder gegen Vorschriften, die eine Impfung vorschreiben, ausspricht”. Damit wird interessanterweise jegliche Kritik an der aktuellen Gesundheitspolitik und ihren Skandalen zum Ausdruck einer verschwörerischen „Gegenkultur”. Wenn solche, dem Vorurteil dienliche selektive Wahrnehmung im Nachhinein dann von verehrenden Journalisten-Kollegen als „soziologische Analyse“ verklärt wird, sieht man auch hier vor allem, wie weit die Parallelwelt der Halbbildung einiger Kleinstadtintellektuellen reicht.
Was genau solche journalistischen Gemeinplätze bedeuten, scheint der damit verfolgten Absicht im Prinzip aber nebensächlich. Denn es geht hier, neben dem üblichen politischen Kalkül der Presse, in erster Linie um das selbsterhöhende Schmähen und Erniedrigen einer vermeintlich intellektuellen und moralischen Elite, die sich seit dem „Krieg gegen den Terrorismus“ ihrer Macht über Volks- und Politikbeeinflussung in Ausnahmesituationen nicht mehr so bewusst war, wie in den letzten zwei Jahren.
In dieser Berufung hat sich jedoch keine andere Zeitung mit einem solch ungestümen Eifer hervorgetan wie das Escher Tageblatt im letzten Dezember. Mehr als in anderen Luxemburger Blättern, die über ausländische und inländische Corona-Proteste berichteten, findet man hier fließende Übergänge von seriösem Journalismus zur Boulevardpresse und ihren bekannten Techniken der politischen Hetze.
Der Schweigemarsch und alles, was damit in Verbindung gebracht werden konnte, wurde so zum Schulbeispiel von unkritischer Verallgemeinerung. Hier wurden systematisch Randmerkmale zu Gruppencharakteristiken hochstilisiert und dadurch in reduktiver Verbesonderung als Charakteristik ganzer Menschengruppen mobilisiert. Und schliesslich wurden durch mediale Diskriminierung und selektive Merkmalsaufnahme alle Fäden der Logik des Sündenbocks gezogen. Im Anschluss an den bevorzugten, radikalisierten Wissenschaftsexperten des Tageblatts, scheinen die Escher Schreiber überzeugt zu sein, dass die meisten gesellschaftlichen und moralischen Missstände der Pandemie ausschließlich von kriminellen Impfgegnern stammen.
In den Dezember-Nummern des Tageblatts durchexerziert so ein selbst ernannter „kritischer“ Qualitätsjournalismus mit beeindruckender Einförmigkeit die Techniken derselben Falschinformation, die er mangels überzeugender Beweise als Charakteristik einer an den Pranger gestellten Minorität exaltiert nachzuweisen versucht.
Als neutraleres Beispiel solcher Techniken könnten die im Tageblatt dargestellten „Impfstreiks“ in Mailand, Turin und Triest angeführt werden. Anhand von vereinzelten Plakaten und ohne ausgewiesene Anwesenheit des Korrespondenten an den verschiedenen Ereignissen, werden hier abermals größere Menschenmassen in mehreren Städten zugleich als rechtsextrem, antisemitisch und Trump-affin ausgezeichnet (Tageblatt Nr. 272, S. 8).
Tausende Teilnehmer und hunderte von unterschiedlichen Plakaten werden in dieser Logik auf eine einzige Randgruppenmentalität verkürzt, die als gemeinsamer Nenner einer sonst erstaunlich merkmalsarmen und offensichtlich konstruierten homogenen Protest-Gruppe dienen soll.
Hier findet man, in fast völliger Berührungslosigkeit mit der Wirklichkeit, das regelmäßig praktizierte Modell der Berichterstattungen der Corona-Proteste, das dann gleichzeitig auch auf jegliche Kritik der paternalistischen Gesundheitspolitik angewendet wird.
Eine detailliertere Analyse solcher als Journalismus getarnte Stimmungsmache würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Ein paar Beispiele müssen für das Ganze genügen.
Am 20. Oktober spricht das Tageblatt, versuchsweise differenziert, in einer noch gemäßigten Darstellung von „einer Bewegung (…) die heterogener nicht ausfallen“ könnte. Ohne auf den Widerspruch einer orientierungslosen „Bewegung“ einzugehen, wird die zutreffende Beschreibung der Heterogenität trotz aller Vorsicht auf zwei sich ausschließende Gruppen aufgeteilt : „radikale Impfgegner, Covid-Leugner, Populisten und Verschwörungstheoretiker“ einerseits, und „besorgte Bürger, die eine Spaltung der Gesellschaft befürchten“ andererseits.
Am 16. Dezember werden die Schweigemärsche dann nur noch einseitig in Verbindung mit dem leeren Ausgrenzungsbegriff der „Schwurbler“, und mithilfe einer dazugehörigen imaginären „Schwurbelszene“ in Verbindung gebracht. Jegliche Corona-Kritik, auf der Strasse oder im Text, wird jetzt weitgehend als Ausdruck von wissenschaftsfeindlicher und rechtsextremer, antidemokratischer Gesinnung nach unten nivelliert. Damit öffnet sich dann auch die Tür der Antisemitismusvorwürfe.
Der Autor dieses Artikels, ein Student und selbst bezeichneter Anti-Populismus-Aktivist, der seine Analyse der „Methoden und Taktiken der Luxemburger Schwurbelszene“ größtenteils aus freien Stücken und unverstandenen Vorlesungen heraus erfindet, glaubt bei den Corona-Protesten die „klaren Feindbilder, Schwarz-weiß-Denken, toxische Hierarchie und gruppenbezogenen Diskriminierungen“ wiederzuerkennen. Unbeachtet dessen, dass solch vermeintliche ‚Analyse‘ sich der verteufelnden diskursiven Methoden und Taktiken selbst ausgiebig in seiner Realitätsferne bedient, sei daran erinnert, dass selbst Angela Merkel ihre Corona-Politik mehrmals als „Zumutung für die Demokratie“ bezeichnete. Ganz so leicht wie im ambitiösen Hochschulaufsatz dürfte die politische Kritik an den Maßnahmen dann doch nicht einzuordnen sein.
Im Editorial derselben Ausgabe lässt es sich auch der neue, promovierte Chefredakteur des Tageblatts nicht nehmen, die juristische Antwort einiger zu unrecht Angeklagter und an den Pranger gestellter vermeintlicher „Organisatoren“ der Märsche im Voraus als Missbrauch des Luxemburger Justizsystems zu disqualifizieren. Mediale Selbstjustiz im Vollzug : Wer sich gegen das Unrecht wehrt, erweist sich damit als noch schuldiger im Sinne der gut gemeinten Anklage. Die Justiz wird sich über so viel journalistische Maßregelung gefreut haben.
Dass andere Berichterstattungen auch im Tageblatt möglich sind, bewiesen die Beiträge von Lucien Montebrusco und Marco Götz. Deshalb scheint es auch nicht klar, ob das Tageblatt bei diesen Themen ein durchdachtes politisches Kalkül verfolgt.
Klar scheint jedoch, dass bei den jüngeren Journalisten die Logik und die Moral des identitären Diskurses sich mit der Überheblichkeit der Unerfahrenen und dem Ressentiment der noch nicht Arrivierten unüberlegt durchsetzt. Die rhetorischen „Techniken und Tricks” der jungen Reporter und studentischen Rekruten des Tageblatts im Kampf für das moralische Heil der Nation stammen dann auch ingesamt aus der Logik und der dünnen Ideologie der identitären Politik.
19961 beschrieb der englische Historiker Eric Hobsbawm – in tempore non suspecto – die identitäre Politik in Abgrenzung zur traditionell linken Gesellschaftskritik als abstrakt, ausschließend und polarisierend. Der identitäre Diskurs, so Hobsbawm, gründet auf einer zu Gruppenzugehörigkeiten verkürzten Identitätsbehauptung. Solche identitären Gruppenzugehörigkeiten werden in erster Linie negativ, als Abgrenzung von anderen Gruppen definiert.
Die Welt der identitären Logik teilt sich in Dazugehörige und Außenseiter auf, die weiter nichts verbinden soll als ihre gegenseitige Feindschaft. Damit erschließt sich auch schon die Inhaltslosigkeit der identitären Zugehörigkeiten : „mehr Hemd als Haut”. Solche Identitäten lassen sich, so Hobsbawm zurecht, austauschen wie Hemden und vermögen es, sich schnell und leicht auf augenblickliche ideologische Moden einzustellen.
Zugehörigkeiten sind, wie es Hobsbawm zutreffend beschreibt, in wechselhafte Kontexte eingebettet und vermögen es mit der gleichen Intensität und diskriminierenden Aggressivität für jeglichen Ausschluss Andersdenkender zu kämpfen.
Trotzdem geht identitäres Denken durch jeden thematischen Wandel hindurch davon aus, dass immer eine oder wenige Identitäten politisch relevant sind : sei es die Religion, die Nationalität oder politische Gruppe oder die sexuelle Orientierung. Neu ist hier die Rückkehr der Biologisierung identitärer Politik, die wie die traditionelle Eugenik Menschen nach den medizinischen Qualitäten (geimpft/ungeimpft) in eine moralisierende Selektion einordnet.
Sicherlich sind die naiven und geschichtlich uninformierten Vergleiche einiger Demonstranten mit der nazistischen Endlösung unangebracht und verwerflich. Aber die systematische Praxis der identitären Biologisierung von Politik, besonders bei Leuten, die es besser zu wissen vorgeben, scheint dennoch ungleich abstoßender und gefährlicher durch ihre mediale Macht.
Es ist nicht klar auf welches Terrain das Tageblatt und ihr neuer Chefredakteur die Traditionszeitung hinsteuern wollen. Aber es wird sicherlich nicht das Terrain des Dialogs und der rationalen Diskussion sein. Mehr als andere Luxemburger Medien hat sich das Tageblatt im Dezember darum bemüht Graben aufzumachen und eigenhändig die Spaltung in die Bevölkerung zu treiben, die dann hinterrücks einer Minorität zugeschrieben wird.
Wie man aus den Darstellungen von Reporters sans Frontières weiß, „ist die luxemburgische Presse (strukturell) in ihrem Handeln durch die begrenzte Größe eines Landes eingeschränkt, in dem ihre Interessen schnell mit denen der Entscheidungsträger und Wirtschaftsagenten kollidieren”.2 Selbstverständlich lösen sich in solchen Fällen Interessekollisionen gerne in Interessenkollusionen auf. Die Frage der politischen Befangenheit unserer Medien bleibt jedenfalls während der aktuellen politischen und medialen Krise dringender denn je.
Hinweise auf die Probleme der politischen Korruption und das daraus entstehende demokratische Defizit kommen, entgegen der Angaben unserer Medien, nämlich nicht nur von den Kritikern der vermeintlichen „Schwurblerszene”.
In der Dezember-Ausgabe des Aktuell (#5, 2021, S. 90) formuliert Nora Back, Präsidentin des OGBL, eine unmissverständliche Kritik an der Regierungspolitik :
Wenn korporatistische Lobbyisten zu Gesetzesschreibern im Gesundheitsministerium werden, haben wir ein handfestes demokratisches Defizit, das im übrigen den sogenannten „Gesondheetsdësch“ zur Farce macht. Besonders verwerflich ist in diesem Zusammenhang, dass von der Coronakrise profitiert wird, um so still wie nur möglich höchst kontroverse politische Vorhaben durchzupeitschen.
Das Verständnis davon, dass Gesundheitspolitik und Krisenmanagement mithilfe der AMMD, des Collège Médical (N. Back, loc. cit.) und der Presse nicht nur auf „knallharte Kommerzialisierung unseres Gesundheitswesens” hinsteuern, sondern dass auch „alles andere politisch Notwendige und Wichtige, das, wenn keine Pandemie wäre, im Fokus der Politik, der Medien und der öffentlichen Diskussion stehen würde, vertagt“ wird, sagt klar aus, was in den „Parallelwelten” der vermeintlichen Verschwörungstheoretiker nicht anders gedacht wird.
In perfektem Einklang treiben Politik, ärztliche Interessengruppen und Presse die Krise als Vorwand für den Fortschritt undemokratischer Verwirtschaftlichung voran. Hierbei handelt es sich um das altbekannte neoliberale Programm des Monopolkapitalismus, ob man es als „private Kommerzialisierung”, vierte industrielle Revolution, Rifkin-Prozess oder dramatischer als „Great Reset” bezeichnen mag, bleibt dabei nebensächlich. Hinter dem Vorwand der Krise, der aggressiven Moralisierung und der inakzeptabel instrumentalisierten Antisemitimusdebatten zeigt sich hier, dass Verschwörungen nicht nur als Theorien existieren.
Aus offensichtlichen Gründen werden solche öffentlich-privaten Interessensverschwörungen von genau den politischen und medialen Akteuren in volkverhetzender Manier vorangetrieben, die sich angeblich am stärksten gegen Verschwörungskritiker wehren.
Auch ohne eingehendes Studium von Niklas Luhmanns Medientheorie konnte der deutsche Virologe Christian Drosten noch Anfang letzten Novembers bei der Verleihung eines Medienpreises feststellen, dass „unsere Realität das (ist), was die Medien uns spiegeln.“
Und es wäre zu hoffen, dass Drostens weitere Einsicht auch bei uns, in vielleicht nicht allzu ferner Zukunft, Gehör finden könnte : „Wir werden noch lange zu knabbern haben an der Aufarbeitung der Pandemie. Eine Nachbesinnung ist nicht nur in der Politik und der Wissenschaft, sondern unbedingt auch im Journalismus nötig.“