Die ewiggestrigen Pazifisten und die neue Demokratie

„Soldat und Tod“ (1917). Hans Larwin (1873–1938). Heeresgeschichtliches Museum. Bundesministerium für Landesverteidigung, Wien.

Im „Mani­fest für den Frie­den“, das inz­wi­schen 936’000 Unter­schrif­ten in Deut­schland gesam­melt hat, schrie­ben die dama­lig noch Linke Poli­ti­ke­rin Sah­ra Wagenk­necht und die femi­nis­tische Jour­na­lis­tin Alice Schwar­zer am 2. Januar 2023 zum Ukraine-Krieg : „Über 200.000 Sol­da­ten und 50.000 Zivi­lis­ten wur­den bisher getö­tet. Frauen wur­den ver­ge­wal­tigt, Kin­der veräng­stigt, ein ganzes Volk traumatisiert.“

Am 17. Sep­tem­ber 2024, ein Jahr und 8 Monate spä­ter, schätzte das Wall Street Jour­nal die Zahl der Ver­wun­de­ten und Toten auf eine Mil­lion (Pan­cevs­ki, 2024). Seit Beginn der Inva­sion bis heute haben die USA, dem Bericht des Außen­mi­nis­te­riums zufolge, 66,5 Mil­liar­den US-Dol­lar an militä­ri­scher Unterstüt­zung für die Ukraine bereit­ges­tellt. Diese umfas­sen fort­schrit­tliche Waf­fen, Aus­bil­dung und logis­tische Unterstüt­zung (Uni­ted States Depart­ment of State, 2025).

Am 14. Sep­tem­ber 2024 berich­tete das Kie­ler Ins­ti­tut für Welt­wirt­schaft, dass der Ukraine seit dem Beginn des Krieges rund 267 Mil­liar­den Euro an Hilf­sgel­dern zur Verfü­gung ges­tellt wur­den. Das ents­pricht 80 Mil­liar­den Euro pro Jahr : „Von die­sem Gesamt­be­trag ent­fie­len rund 130 Mil­liar­den Euro (49 Prozent) auf Militä­rhilfe, 118 Mil­liar­den Euro (44 Prozent) auf finan­zielle Unterstüt­zung und 19 Mil­liar­den Euro (7 Prozent) auf huma­nitäre Hilfe“ (IfW Kiel, 2025). Dabei hat Euro­pa bereits die Hil­fen der Verei­nig­ten Staa­ten überholt.

Glaubt man der NATO-nahen Washing­to­ner Denk­fa­brik Atlan­tic Coun­cil, so hat es Russ­land im Ver­lauf des gesam­ten Jahres 2024 fer­tig­ge­bracht, die militä­rische Ini­tia­tive auf dem Gefechts­feld zu wah­ren und an meh­re­ren Absch­nit­ten der rund tau­send Kilo­me­ter lan­gen Front­li­nie Fort­schritte in Form von Gebiets­ge­win­nen zu erzie­len (Bie­lies­kov, 2025).

Im ver­gan­ge­nen Jahr kam es eben­falls zu einer nie dage­we­se­nen Zahl an Deser­tio­nen in der Ukraine, die die ohne­hin anges­chla­gene Ver­tei­di­gung­sfä­hig­keit des Landes wei­ter ges­chwächt haben. Sollte es nicht gelin­gen, die­ser Ent­wi­ck­lung ent­ge­gen­zu­wir­ken, dro­hen der Ukraine schwer­wie­gende Kon­se­quen­zen, so die Auto­rin des Atlan­tic Coun­cil.

Es dürfte wohl nicht unverständ­lich sein, bei die­ser Situa­tion, bei sol­chen Zah­len von Toten und Ver­wun­de­ten, von Gel­dern für Waf­fen und huma­nitäre Hil­fen, bei der Schwä­chung der Ukraine durch Aus­wan­de­rung – fast 7 Mil­lio­nen Men­schen, rund 18 % der Bevöl­ke­rung, laut den Schät­zun­gen der UNHCR habe die Ukraine seit Krieg­sbe­ginn ver­las­sen – und Deser­tion die Wirk­sam­keit wei­te­rer tau­send oder hun­dert­tau­send Toten, Mil­liar­den Hil­fe­leis­tun­gen infrage zu stellen.

Was genau sollte sich jetzt, nach drei Jah­ren mas­si­ver Aufrüs­tung, durch wei­tere Aufrüs­tung und Waf­fen­lie­fe­run­gen gegenü­ber dem rus­si­schen Ter­ri­to­rial­ge­winn bewerks­tel­li­gen lassen ?

Hin­zu kommt – ein Argu­ment, das die Ver­tei­di­ger des Frie­dens durch Waf­fen gerne abs­trakt und ohne jegliche Zah­le­nan­ga­ben anfüh­ren –, dass laut der letz­ten Schät­zun­gen der Washing­to­ner Gal­lup Orga­ni­za­tion die Hälfte der ukrai­ni­schen Bür­ger sich ein „schnelles, verhan­deltes Ende vom Krieg“ wün­scht (Gal­lup, 2025). Es scheint, als ob die Krieg­sver­tei­di­ger sich genau­so wenig an der rea­len Mei­nung der Ukrai­ner inter­es­sie­ren wie die jet­zi­gen Akteure des schein­ba­ren „Dik­tat­frie­dens“ (Olaf Scholz am 17. Februar 2025 in Paris).

Solche Zah­len kön­nen selbst­verständ­lich hin­ter­fragt wer­den, ins­be­son­dere da es sich jeweils um die gegenwär­tig best­verfüg­ba­ren, jedoch metho­disch beding­ten Schätz­werte han­delt, deren Genauig­keit durch begrenzte Daten­lage, dyna­mische Ent­wi­ck­lun­gen und Erhe­bung­sun­si­che­rhei­ten rela­ti­viert wer­den muss.

Man könnte frei­lich auch – wie etwa Marie-Agnes Strack-Zim­mer­mann, Vor­sit­zende des Aus­schusses für Siche­rheit und Ver­tei­di­gung des Europäi­schen Par­la­ments – kur­ze­rhand jene Zah­len prä­sen­tie­ren, die den eige­nen bel­li­zis­ti­schen Über­zeu­gun­gen am bes­ten ents­pre­chen. Bereits wäh­rend der Pan­de­mie haben Poli­tik und Medien derar­tige poli­ti­sierte Zah­len­tech­ni­ken weit­ge­hend nor­ma­li­siert und damit einer stra­te­gi­schen Ins­tru­men­ta­li­sie­rung quan­ti­ta­ti­ver Aus­sa­gen Vor­schub geleis­tet. So behaup­tete Frau Strack-Zim­mer­mann kürz­lich in einer Debatte, dass Putin „hun­derte Mil­lio­nen unter die Erde gebracht“ habe und die Ukraine „70 Mil­liar­den Men­schen ernähre“ (ORF. „Im Ges­präch“ 25. März 2025).

Bedeu­tend ein­fa­cher wird die Debatte, wenn sich Poli­ti­ker und Medien ganz vom Bezug auf die Wirk­li­ch­keit loslö­sen. Dadurch wird es möglich, in selbst­be­zo­ge­ner Tugen­dhal­tung sich glei­ch­zei­tig als Befür­wor­ter der Demo­kra­tie zu ins­ze­nie­ren und die reale „Into­le­ranz gegenü­ber Anders­den­ken­den in öffent­li­cher Anpran­ge­rung und Aus­gren­zung“ mora­li­sie­rend zu übertün­chen. Hie­raus ents­teht im aktuel­len Erzie­hung­sjour­na­lis­mus „die Ten­denz, kom­plexe poli­tische Fra­gen in mora­lische Gewis­shei­ten zu überfüh­ren“ (Die Zeit, 2020).

Genau diese öffent­liche Zur­schaus­tel­lung des als demo­kra­tisch mys­ti­fi­zier­ten Illi­be­ra­lis­mus veröf­fent­licht das Wort in einem Arti­kel vom 27. März 2025. In ideo­lo­gi­scher Übe­reins­tim­mung mit dem Abgeord­ne­ten David Wag­ner von Déi Lénk äußert sich Die­go Velaz­quez – Wort-Redak­teur mit „inter­dis­zi­plinä­rem aka­de­mi­schem Hin­ter­grund in Phi­lo­so­phie, Sprach­wis­sen­schaft, Kom­mu­ni­ka­tion und Wis­sen­schafts­theo­rie“ – in der Ukrai­ne­frage wie folgt :

„Indem sich Déi Lénk der Rea­lität des Krieges auf dem Kon­tinent stel­len – ans­tatt mit der ADR im Abseits zu schmo­ren – haben sie wie­der einen Ans­pruch darauf, ihr Wort in der der­zei­ti­gen Ver­tei­di­gung­sde­batte mit­zu­re­den.“ (Velaz­quez. Luxem­bur­ger Wort. 27. März 2025)

Die ver­meint­liche „Rea­lität“ ents­pricht hier selbs­tre­dend der poli­ti­schen und mora­li­schen Über­zeu­gung des rech­ten Wort­jour­na­lis­ten, der von den „Jun­glin­ken“ geteilt wird. Der Leser vers­teht : erst wer sich der „Rea­lität“ des schein­bar unan­fecht­ba­ren Mei­nung­skon­senses anpasst, darf mitre­den. Ob sol­cher Mei­nung­skon­sens auf einem Bezug zur Wirk­li­ch­keit grün­det, ist in sol­chem Dis­kurs je schon überflüssig.

Wer nicht linien­treu ist, sollte aus dem demo­kra­ti­schen Dis­kurs aus­ges­chlos­sen wer­den. Und das heißt, im Wort­duk­tus der Illi­be­ra­len : Die Oppo­si­tion schmort im Abseits. Das ist die­selbe Aus­schluss­lo­gik, die auch die soge­nannte Life­style-Linke gegenü­ber den Rech­ten prak­ti­ziert. Wer anders denkt, ist unde­mo­kra­tisch. Demo­kra­tie, die in den Träu­me­reien eini­ger poli­ti­scher Phi­lo­so­phen ein­mal par­ti­zi­pa­ti­ver Plu­ra­lis­mus bedeu­ten sollte, wird hier hin­ter den Brand­mauern des stil­l­sch­wei­gen­den Kon­for­mitäts­drucks ver­bannt und zum poli­ti­schen Schwei­gen verurteilt.

Diese neue ‚demo­kra­tische‘ Ord­nung ver­tre­ten, dem Wort zufolge, sowohl die „jun­gen“ Lin­ken als auch die anti­li­be­ra­len Rech­ten. In sol­chen Schein-Debat­ten wiegt die Bereit­schaft zur Einord­nung und die Orien­tie­rung an die homo­ge­ni­sierte Meh­rheits­po­si­tion schwe­rer als sub­stan­zielle linke Kritik.

Seit März 2020 hat die „junge“ Linke durch ihre ein­hel­lige Unterstüt­zung eines fragwür­di­gen Aus­nah­me­zus­tands – den sie noch drei Jahre zuvor ent­schie­den und mit mora­li­schem und juris­ti­schem Nach­druck abge­lehnt hatte – ihre grup­pen­be­zo­gene Loya­lität im auto­ritär gepräg­ten Kon­text zum ideo­lo­gi­schen Fun­dament ihres poli­ti­schen Selbst­verständ­nisses erho­ben. Damit sollte die Anpas­sung­sfä­hig­keit der Lin­ken als mögli­cher Koa­li­tions­part­ner daue­rhaft gesi­chert und die tra­gende mora­lische Linie inne­rhalb der Par­tei gegen die prin­zi­pien­ge­lei­te­ten „Alt­lin­ken“ verhär­tet werden.

Tatsä­chlich real­po­li­tisch han­deln diese jun­gen Lin­ken vor allem dann, wenn sie die jeweils domi­nante Mei­nung – mit einem Hauch rhe­to­ri­scher Eigen­farbe – über­neh­men. Denn par­tei­tak­tisches Kalkül und stra­te­gische Ins­ze­nie­rung erset­zen zuneh­mend poli­tische Sub­stanz und offen­ba­ren damit die eigent­liche Rea­lität einer zur Schau Spektakel-Demokratie.

Dass durch die Unterstüt­zung rechts­kon­ser­va­ti­ver Medien bereits eine Woche vor der inner­par­tei­li­chen Debatte poli­tische Tat­sa­chen ges­chaf­fen wer­den, offen­bart auf machts­tra­te­gische Weise das illi­be­rale Grund­verständ­nis einer selbst­ge­rech­ten jun­gen Par­teie­lite. Damit über­nimmt die „junge“ Linke was einer der Vor­den­ke­rin­nen der „ewig­ges­tri­gen“ Lin­ken ([sic] Velas­quez & Wag­ner, 2025) – Chan­tal Mouffe – die post-poli­tische Stel­lung nannte : „Was ich post­po­li­tisch nenne, ist die Tat­sache, dass die Bür­ger nicht mehr zwi­schen unter­schied­li­chen Kon­zep­ten wäh­len kön­nen.“ „Demo­kra­tie“, so Mouffe wei­ter, „muss ago­nis­tisch sein, es muss Kon­fron­ta­tion geben und damit auch die Mögli­ch­keit der Wahl. Wir haben einen Kon­sens der Mitte und der ist schlecht für die Demo­kra­tie“ (Mar­ti­ni & Mouffe, 2018). In die­sem Popu­lis­mus der radi­ka­len Mitte fügt sich die „junge“ Linke bereit­willig in eine flexible Glei­chrich­tung mit der Rech­ten ein.

Nach­dem Marx einst den idea­lis­ti­schen Kopf der hegel­schen Welt­ges­chichte ent­schlos­sen auf die real­wirt­schaft­li­chen Füße ges­tellt hatte, schaf­fen es die jun­gen lin­ken und rech­ten Real­po­li­ti­ker – mit media­ler Kaval­le­rie im Rücken – die­sen Kopf wie­der tief genug zu beu­gen, um bequem in den Kanon aktuel­ler Macht­ve­rhält­nisse hinein­zu­ni­cken. Das Prin­zip die­ser Real­po­li­tik lau­tet dann wie­der ein­mal : Tant pis pour les faits ! Aber die Moral ist geret­tet. Und irgend­wo zwi­schen den Rui­nen mar­schiert sie wei­ter, die Wah­rheit der Selbst­ge­rech­ten, unge­beugt, unberührt, mit der Würde des­sen, der nichts gese­hen hat. Die Toten zah­len, die Verstüm­mel­ten tra­gen, die Ver­ge­wal­tig­ten sühnen.

Literatur :