Während des diesjährigen Treffens des World Economic Forums in Davos, wurde Frau Věra Jourová, die tschechische Vizepräsidentin der EU-Kommission, von Euronews auf Elons Musks Aussagen über freie Meinungsäußerung befragt.1 Denn Herr Musk hatte tatsächlich behauptet, er setze sich für einen Absolutismus der freien Meinungsäußerung auf Twitter ein.
Was Herrn Musks Absolutismus betreffe, so Frau Jourová mit einem ironischen Lächeln, muss er wissen, dass auch wir, also auch die Europäische Kommission, Beschützer der Redefreiheit sind. Wir, so Frau Jourová, haben die Regeln und wer sich nicht benimmt, der wird mit Sanktionen zu rechnen haben.
Das neue Informations-Schutzgesetz
Die Regeln, um die es hier geht, sind die des Digital Services Act (DSA), der am 27. Oktober 2022 im europäischen Amtsblatt veröffentlicht wurde und im Februar 2024 in Kraft treten wird.2 Dieses Gesetz soll die europäischen Bürger nicht nur vor illegalen Onlineinhalten schützen, sondern auch vor Desinformation, Manipulation und Hass.
Für die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, erlaubt es der DSA sicherzustellen, dass das Internet wieder zu einem sicheren Raum wird, der Meinungsfreiheit unterstützt und beschützt.
Und der zuständige Europakommissar Thierry Breton, der noch kürzlich vehement behauptete, dass man in den Gängen der Europäischen Kommission niemals Lobbyisten treffe, denkt, dass mit dem DSA die Zeit vorüber ist, in der die großen Konzerne so verfahren konnten, wie es ihnen gefiel.
Sicher ist sicherer ?
Selbstverständlich ist der Schutz vor illegalen und gefährlichen Inhalten im Internet ein lobenswertes Vorhaben. Und niemand wird an den möglichen Gefahren von Falschinformation, Manipulation und Hass zweifeln. Dennoch kann man sich nur schwerlich über dieses neue Gesetz zur Sicherung von Demokratie und Geschäft freuen.
Verdeckt von den lobpreisenden Aussagen der europäischen Politiker dürfte die schöne neue demokratische Redefreiheit trotz ihrer guten Absichten auf eine Reihe von altbekannten Problemen stoßen.3
Nach dem Risikopräventionsansatz des DSA obliegt es den Plattformen, den tatsächlichen oder vorhersehbaren negativen Auswirkungen auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit, des gesellschaftlichen Diskurses oder der öffentlichen Sicherheit Einhalt zu gebieten. Der Begriff von tatsächlichen oder möglichen negativen Auswirkungen ist aber nicht nur äußerst vage, sondern liest sich wie eine regelrechte Einladung zur willkürlichen Zensur.
Im Fall der Desinformation sollen „nachweislich falsche oder irreführende Informationen“ per Algorithmen von den großen Internetplattformen herausgefiltert werden. Hier hat sich die Kommission also zum Ziel, gesetzt, das Richtige vom Falschen, die Wahrheit von der Unwahrheit zu unterscheiden. Kein leichtes Unterfangen, wie man es aus 2500 Jahren Philosophie und Wissenschaft leicht erkennen kann. Den Anspruch von verschiedenen heiligen Schriften ausgenommen, konnte sich bisher kein Denken und keine Wissenschaft damit hervortun, unzweifelhafte und unveränderliche Wahrheit tatsächlich erschaffen zu haben. Besonders wissenschaftliche und politische ‚Wahrheiten‘ gleichen kaum je den unvergänglichen und unveränderlichen Ideen Platons.
Wissenschaftliche Forschung und politische Debatten in einer Demokratie kennzeichnen sich nämlich geradezu dadurch, dass ihre Wahrheiten sowohl kritisiert, revidiert und abgelehnt werden können.
Die Wahrheit der Politik
Als die Inquisition 1633 Galileo Galileis Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme verurteilte, tat sie das unter anderem mit dem Argument, dass auch die Bibel als wissenschaftliche Autorität damit infrage gestellt sei. Galileis Annahmen und Beweisführungen wären also, aus der Perspektive der Europäischen Kommission, nicht nur irreführende Information, sondern hatten auch nachweisbare negative politische und gesellschaftliche Auswirkungen. Denn Galileis Auffassungen waren nicht nur äußerst populär, sie hatten auch die Unterstützung des Kardinals Maffeo Barberini und des Papstes Urban VIII.
Aus solchen historischen Beispielen ersieht man leicht, auch ohne Rückgriff auf Antonio Gramscis Einsicht, dass Wahrheit und Information auch zu den Manipulationstechniken der politischen Macht zählen. Man versteht, wie einfältig die Begriffsbestimmungen der Wahrheit und der Information sind mit denen die Europäische Kommission sich jetzt anmaßen wird, Wahrheit von Falscheid und Lüge zu unterscheiden. Das geschichtliche Motto der Regeln von digitaler Meinungsfreiheit wäre demnach : Eppur non si muove ! Anderenfalls gibt es Sanktionen.
War Demokratie nicht einmal gedacht, um die Wahrheit von der politischen oder wirtschaftlichen Macht zu trennen ? John Stuart Mills Marktplatz der Ideen, Karl Poppers offene Gesellschaft oder die neueren Theorien der deliberativen Demokratie sind jedenfalls nicht auf Wahrheitsministerien gestützt. Selbstverständlich sind demokratischer Diskurs und wissenschaftliche Forschung ohne Wahrheitsanspruch hinfällig. Aber vermögen es europäische Wahrheitskommissare mit nebulösen Entscheidungsprinzipien, die „Wahrheit“ zu beschützen und so die Demokratie zu retten ?
Welches auch immer die Absichten von Elon Musk sind, so haben die Twitter-Files schon unmissverständlich gezeigt, wie aktiv und systematisch auch Regierungen, Geheimdienste und ihre Experten im Verbreiten von Falschinformationen tätig sind. In seiner schriftlichen Zeugenaussage vor dem amerikanischen Kongress sprach der Journalist Michael Shellenberger in Anlehnung an den Ausdruck des militärisch-industriellen Komplexes von einem neuen zensur-industriellem Komplex.4 Internetriesen wie Google, Facebook und Twitter koordinieren ihre systematische Zensur von unbequemen Informationen mit Regierungsstellen, Geheimdiensten, NATO Think-Tanks und politisierten Privatfirmen wie Goldman Sachs im Finanzwesen, Lockheed Martin in der Rüstungsindustrie und ConocoPhillips in der Erdölbranche. Zensur und Desinformation scheinen so, nach den Aussagen Shellenbergers, in den Vereinigten Staaten bereits zu einer eigenständigen Zensur-Industrie geworden zu sein, der systematisch an der Kontrolle der öffentlichen Meinung arbeitet.
Umso erstaunlicher scheint es dann, dass die Europäische Kommission auf solche Zensur mit globalen Auswirkungen ihrerseits mit dem Aufstellen von Zensurregeln antwortet. Denn was Frau Jourová in Ihren Aussagen beanstandet, ist nicht die Twitter-Zensur, sondern den Wunsch diese aufzuheben und ihre Mechanismen aufzudecken. Europa kritisiert somit nicht den zensur-industriellem Komplex, sondern beabsichtigt seinen eigenen zensur-industriellem Komplex einzurichten.
Wer aber kontrolliert dann alle diese zweifelhaften Kontrolleure, wenn sie darüber bestimmen, was gesagt werden darf und was nicht ?
Hinweise
- https://www.euronews.com/video/2023/01/19/the-time-of-the-wild-west-is-over-eu-vera-jourova-warns-elon-musk-twitter-from-davos-wef
- https://digital-strategy.ec.europa.eu/de/policies/digital-services-act-package
- Siehe Peukert, Alexander. 2021. “Five Reasons to be Skeptical About the DSA”. Verfassungsblog. [https://verfassungsblog.de/power-dsa-dma-04]
- Siehe : https://judiciary.house.gov/sites/evo-subsites/republicans-judiciary.house.gov/files/evo-media-document/shellenberger-testimony.pdf
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