Adorno : Bemerkungen zur ›Authoritarian Personality‹

Mit den von Eva Maria Ziege erst­mals heraus­ge­ge­be­nen „Bemer­kun­gen zu The Autho­ri­ta­rian Per­so­na­li­ty„, deren Typos­kript sich im Nachlass Max Hor­khei­mers befand, bringt der Suhr­kamp Ver­lag dieses Jahr den zwei­ten unveröf­fent­lich­ten Text von Th. W. Ador­no heraus.1 Die „Bemer­kun­gen“ waren urs­prün­glich als Kapi­tel „über die Stel­lung der Stu­die im Verhält­nis zu ande­ren Theo­rien und For­schun­gen“ der 1950 erschie­nen Stu­die The Autho­ri­ta­rian Per­so­na­li­ty gedacht.2

Ador­no hatte das vor­ge­se­hene Kapi­tel in zwei große Teile geglie­dert : Es sollte sich einer­seits mit der Stel­lung der Stu­die in der dama­li­gen For­schung bes­chäf­ti­gen und ande­rer­seits auf das Verhält­nis zu ande­ren „Groß­theo­rien“ ein­ge­hen. Trotz der teil­weise vehe­men­ten Kri­ti­ken, die der Autho­ri­ta­rian Per­so­na­li­ty seit ihrer Veröf­fent­li­chung zuteil wur­den, blei­ben viele von Ador­nos Über­le­gun­gen dur­chaus frucht­bar für aktuelle Unter­su­chun­gen des Rechts­po­pu­lis­mus und des Recht­sex­tre­mis­mus.3

Einer die­ser Gedan­ken, der in der aktuel­len Anti­se­mi­tis­mus­dis­kus­sion wohl nicht mehr als poli­tisch akzep­ta­bel schei­nen dürfte, lehnt sich an Shlo­mo Berg­mans Annahme an, dass es kei­nen Grund gibt zu den­ken, dass „jemand, der Juden kör­per­lich angreift, anti­se­mi­ti­scher wäre als der, der bloß an der Ecke herum­steht und hetzt : Er ist ledi­glich gewalttä­ti­ger. … Wir müs­sen uns an den Gedan­ken gewöh­nen, dass nicht jede Hand­lung, unter der Juden lei­den, zwang­släu­fig und auto­ma­tisch anti­se­mi­tisch ist.“4

Ador­no zieht daraus den Schluss, dass der tota­litäre Anti­se­mi­tis­mus der Nazi-Anhän­ger sich inso­fern vom spon­ta­nen, auf einer „spe­zi­fi­schen Gefühls­ba­sis“ begrün­de­ten Anti­se­mi­tis­mus unter­schei­det, als er ein­fach zum „Steue­rung­smit­tel“ eines beson­de­ren Typus von Mas­sen­men­schen gewor­den ist. Die­ser neue Anti­se­mi­tis­mus, so gewalttä­tig und unmen­schlich er auch ist, wird nicht mehr von einem fun­da­men­ta­len Hass bes­timmt, son­dern von der Bereit­schaft „mecha­nisch ideo­lo­gische Mus­ter zu über­neh­men“.5

Diese Idee hat­ten Ador­no und Hor­khei­mer schon im Anti­se­mi­tis­mus­ka­pi­tel der Dia­lek­tik der Aufklä­rung ent­wi­ckelt. Dort schrie­ben sie : „Wenn die Mas­sen das reak­tionäre Ticket anneh­men, das den Punkt gegen die Juden enthält, gehor­chen sie sozia­len Mecha­nis­men, bei denen die Erfah­run­gen der Ein­zel­nen mit Juden keine Rolle spie­len. Es hat sich tatsä­chlich gezeigt, daß der Anti­se­mi­tis­mus in juden­rei­nen Gegen­den nicht weni­ger Chan­cen hat als selbst in Hol­ly­wood.“6

Wei­te­rhin bemerkt Ador­no, in der­sel­ben Stoß­rich­tung, und im Hin­blick auf die Resul­tate der Stu­die über auto­ritäre Persön­li­ch­keit, dass es kei­nen unmit­tel­ba­ren Zusam­men­hang zwi­schen den „spon­ta­nen Aus­schrei­tun­gen“ anti­se­mi­ti­scher Natur und der „Ver­nich­tungs­po­li­tik“ der Nazis gibt. 

Unter dem nazis­ti­schen Tota­li­ta­ris­mus, so Ador­no, wurde Anti­se­mi­tis­mus zur admi­nis­tra­ti­ven Maß­nahme. Die ratio­na­li­sierte, planmäßige Ver­nich­tung der Juden kann sich zwar einer weit ver­brei­ten­den psy­cho­lo­gi­schen Stim­mung bedie­nen, sie ist aber nicht mehr auf sie ange­wie­sen. Und die­ser Unter­schied ist so wei­trei­chend, dass der tota­litäre Anti­se­mi­tis­mus der Nazis sich vom affek­ti­ven Anti­se­mi­tis­mus sei­ner Anhän­ger ent­frem­det hat. Der affek­tive Anti­se­mi­tis­mus des Nazi-Anhän­gers sei, so Ador­no, deshalb zum bloßen Anhäng­sel des admi­nis­tra­ti­ven Anti­se­mi­tis­mus gewor­den.7 Der neue Anti­se­mi­tis­mus der Natio­nal­so­zia­lis­ten erscheint als „Teil eines brei­te­ren ideo­lo­gi­schen Systems“.

Hier nimmt Ador­no zum Teil, wenn auch über­zeu­gen­der, eine Idee vor­weg, mit der Han­nah Arendt mehr als 10 Jahre spä­ter ihre Leser erzür­nen sollte : Nazis vom Typus eines Adolf Eich­manns seien keine Dämo­nen oder Teu­fel gewe­sen, son­dern banale und psy­chisch nor­male Anges­tellte, welche die Ver­nich­tung der Juden Euro­pas geset­zes­treu und ohne stär­ke­ren Anti­se­mi­tis­mus ver­wal­tet hät­ten. Arendts Aus­le­gun­gen der Per­son Eich­manns hät­ten bes­timmt an Über­zeu­gung­skraft gewon­nen, hät­ten sie sich der sub­ti­le­ren psy­cho­lo­gi­schen Ana­ly­sen der auto­ritä­ren Persön­li­ch­keit angelehnt.

Man kann Eich­mann schwer­lich als den Typus des Schreib­ti­schtä­ters gel­ten las­sen, den Arendt in ihm sehen wollte. Trotz­dem ergibt Ador­nos Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen affek­tiv irra­tio­na­lem und staat­lich-ins­ti­tu­tio­nell orga­ni­sier­tem Anti­se­mi­tis­mus den­noch einen nach­voll­zieh­ba­ren Sinn : die sys­te­ma­tisch ange­legte, ratio­nal dur­ch­kal­ku­lierte und akri­bisch orga­ni­sierte Ver­nich­tung der Juden kann sich nicht auf dem mör­de­ri­schen, wir­ren Rausch eini­ger Eife­rer grün­den. Gleich­sam kann er auch nicht als irra­tio­nale Erhe­bung eines mas­sen­psy­cho­lo­gisch bene­bel­ten Volkes vers­tan­den wer­den. Der Anti­se­mi­tis­mus der Natio­nal­so­zia­lis­ten wird zur admi­nis­tra­ti­ven Maß­nahme eines küh­len poli­ti­schen Kalküls, der auf der Bereit­schaft poli­tisch akti­vier­ter Mithel­fer beruht. 

Das Haup­tau­gen­merk der Stu­die über die auto­ritäre Persön­li­ch­keit liegt deshalb wie bekannt – und wie spä­ter oft vorei­lig kri­ti­siert – in der äußerst fein dif­fe­ren­zier­ten, psy­cho­lo­gi­schen Ana­lyse der indi­vi­duel­len und gesell­schaft­li­chen Voraus­set­zun­gen der Anhän­ger­schaft des Recht­sex­tre­mis­mus. Es geht der Stu­die also darum den „Typus des Indi­vi­duums zu erfor­schen, des­sen all­ge­meine psy­cho­lo­gische Dis­po­si­tion ihn zu einem poten­ziel­len Anhän­ger tota­litä­rer Bewe­gun­gen und fana­ti­scher Ideo­lo­gien macht.“8 Und diese psy­cho­lo­gische Dis­po­si­tion wird durch die Zusam­men­wir­kung von ideo­lo­gi­schem Sys­tem und persön­li­chen Bedürf­nis­sen bestimmt. 

Eines der über­ra­schen­den Resul­tate des The Autho­ri­ta­rian Per­so­na­li­ty war so zum Bei­spiel, dass es bei poten­ziell faschis­ti­schen Per­so­nen mehr offen­sicht­liche cha­rak­ter­liche Übe­reins­tim­mun­gen gibt, als bei nicht- und anti­fa­schis­ti­schen.9 Den­ken in Ste­reo­ty­pen und Kli­schees erschien in den Stu­dien, neben der Fixie­rung auf Kon­ven­tio­nelles, der Auto­rität­shö­rig­keit und der Ableh­nung des Sub­jek­ti­ven, gerade als eines der Haupt­merk­male des mögli­chen Anhän­gers des Faschismus. 

Auch aus der ledi­glich sozial­psy­cho­lo­gi­schen Pers­pek­tive wäre es nach Ador­no nicht aufrecht­zue­rhal­ten, dass gewalttä­ti­ger Anti­se­mi­tis­mus nur zu den men­ta­len Eigen­schaf­ten von unzu­rech­nung­sfä­hi­gen Rauf­bol­den und schwa­chköp­fi­gen Schlä­gern gehö­ren sollte. Kri­mi­nelle und Schlä­ger­ty­pen, so Ador­no, sind zwar ideales „Sturm­trupp-Mate­rial“, erklä­ren aber nicht den all­ge­mei­nen Auf­trieb des Rechtsextremismus. 

Ador­no stimmt in die­sem Punkt auch Nathan Gla­zer zu, dass gesell­schafts­be­dingte Ent­frem­dung, Gefühle der Iso­la­tion, der Hei­mat­lo­sig­keit, der Unsi­che­rheit und der Ruhe­lo­sig­keit in der spä­tin­dus­triel­len Gesell­schaft für den neuen Auf­sch­wung des Anti­se­mi­tis­mus aus­schlag­ge­ben­der sind, als tief ein­ge­wur­zelte his­to­risch inva­riante Denk­mus­ter.10

Die Ana­lyse anti­se­mi­ti­scher Vorur­teile wird dadurch ersch­wert, dass Vorur­teile nicht unbe­dingt und nicht immer not­wen­di­ger­weise bewusst sind. Vorur­teile und Anti­se­mi­tis­mus kön­nen vor­be­wußt und vor allem auch unbe­wusst, im freud­schen Sinn, sein. Und als solche dürf­ten sie noch gefähr­li­cher, da unsicht­bar und unvo­rher­seh­bar sein, als bewusst aner­kannte. Unbe­wusste Abnei­gung kann auch von ges­chick­ten Dema­go­gen so mani­pu­liert wer­den, dass sie ihre ver­nich­tende Wir­kung, unte­rhalb jegli­chen bewuss­ten mora­li­schen Kon­flikts, unmit­tel­bar auf die Rea­lität über­tra­gen. Hier konn­ten die Stu­dien schon sehr früh fests­tel­len, was die Popu­lis­mus­for­schung heute noch immer bestä­tigt : „Die popu­lis­ti­schen Eins­tel­lun­gen vie­ler Wäh­ler zei­gen sich im Zeit­ver­lauf sta­bil, ihre poli­ti­schen Über­zeu­gun­gen sind prä­gend und fest veran­kert. Sie las­sen sich für popu­lis­tische Zwecke nut­zen, müs­sen aber von popu­lis­ti­schen Bewe­gun­gen und Par­teien nicht erst gene­riert wer­den“.11

Aus die­sem Vor­be­halt vers­teht sich auch der poli­tische Sinn der Stu­die zur auto­ritä­ren Persön­li­ch­keit. Im Gegen­satz zu spä­te­ren Stu­dien über Auto­ri­ta­ris­mus, die sich dem Ans­pruch neu­tra­ler Indi­vi­dual- oder Sozial­psy­cho­lo­gie ver­schrei­ben, hat Ador­no sei­nen Ansatz auf einen kla­ren prak­ti­schen Sinn hin aus­ge­legt. Aus der nuan­cier­ten Auf­fas­sung des Anti­se­mi­tis­mus heraus lässt sich näm­lich vers­te­hen, dass die poli­tische Gefahr weni­ger von den spon­ta­nen Auswüch­sen einer kopf- und füh­rung­slo­sen Mas­sen­psy­cho­lo­gie aus­geht, als von jenen orga­ni­sier­ten Bewe­gun­gen und ins­ti­tu­tio­na­li­sier­ten Par­teien die sich den Anti­se­mi­tis­mus zum ideo­lo­gi­schen Sockel hin­zu­gefügt haben :

Es ist viel wich­ti­ger den Men­schen­ty­pus zu ermit­teln, der eine Bewe­gung oder Regie­rung unterstüt­zen würde, die die Ver­nich­tung der Juden plant, als die spe­zi­fi­schen Ursa­chen anti­se­mi­ti­scher Aus­schrei­tun­gen an bes­timm­ten Orten zu unter­su­chen.12

Wie also lässt sich ein Men­schen­ty­pus oder eine Persön­li­ch­keit aus­ma­chen, die sich pri­vi­le­giert zu anti­se­mi­ti­schen Dema­go­gen hin­ge­zo­gen fühlt ? Und noch all­ge­mei­ner gefasst : wie lässt sich ein Persön­li­ch­keits­ty­pus bes­tim­men und empi­risch erkun­den, der sich „gegen die Juden oder eine andere geei­gnete Min­de­rheit“ poli­tisch auf­sta­cheln und steuern lässt ? 

Diese Fra­gen stüt­zen sich auf den Unter­schied zwi­schen dem objek­ti­ven gesell­schaft­li­chen Phä­no­men des Anti­se­mi­tis­mus und einem Cha­rak­ter­ty­pus, den es psy­cho­lo­gisch zu ana­ly­sie­ren gilt, setzt. Nicht das gesell­schaft­liche Phä­no­men des Anti­se­mi­tis­mus soll erklärt wer­den, son­dern die indi­vi­duelle „Empfän­gli­ch­keit“ des Mitläufers.

Und auch hier geht Ador­no nicht so sehr um eine neu­trale wis­sen­schaft­liche, um eine posi­ti­vis­tisch und evi­denz­kon­trol­lierte Dars­tel­lung von iso­lier­ten psy­chi­schen Zügen, son­dern um den Zusam­men­hang des Gan­zen. Die­ser erlaubt es gegen die Illu­sion anzukämp­fen, dass der Anti­se­mi­tis­mus nur von außen käme ; dass er ledi­glich das Resul­tat der Mani­pu­la­tions­tech­ni­ken eini­ger ges­chick­ter Dema­go­gen sei. Die Über­zeu­gung, dass sich Indi­vi­duen und Mas­sen ohne ent­ge­gen­kom­mende Wünsche, Fan­ta­sien oder Dis­po­si­tio­nen in jede Rich­tung und nach Wunsch mani­pu­lie­ren las­sen, gehört eher zur wer­be­träch­ti­gen Selbst­mys­ti­fi­zie­rung der Pro­pa­gan­da, als zu deren rea­len Mögli­ch­kei­ten.13

In die­ser Hin­sicht wäre es absurd, schreibt Ador­no wei­te­rhin, ein­zelne, iso­lierte und zusam­men­hang­slose Quel­len des Anti­se­mi­tis­mus, der Dis­kri­mi­nie­rung und der Gewalt gegen Min­de­rhei­ten bemes­sen zu wol­len. Denn der Hang zur Pro­jek­tion ist nicht denk­bar ohne die Aggres­sion, welche ihrer­seits nicht ohne den Neid zus­tande kommt, den man nicht ana­ly­sie­ren kann, ohne auf die soziale Stel­lung ein­zu­ge­hen, die ihn bedingt. Fol­glich erscheint die Dis­po­si­tion zum Auto­ri­ta­ris­mus nur im gesell­schaft­li­chen Gan­zen verständ­lich, in dem er erscheint und poli­tisch zum Tra­gen kommt.

Mit die­sen Erläu­te­run­gen dürfte dann auch der Groß­teil der Kri­ti­ken an der Auto­ritä­ren Persön­li­ch­keit inhalts­leer wer­den, die nahe leg­ten, dass Anti­se­mi­tis­mus, gesell­schaft­liche Dis­kri­mi­nie­rung und Gewalt gegen aus­ge­grenzte Grup­pen nicht psy­cho­lo­gisch zu redu­zie­ren seien. Immer wie­der weist Ador­no darauf hin, dass das sub­jek­tive Moment der Vorur­teile kei­nes­falls den Anschein erwe­cken soll, dass mit der Psy­cho­lo­gie allein die Ange­le­gen­heit schon erklärt sei.14

Ohne eine Unter­su­chung der gesell­schaft­li­chen Kräfte, in die eine solche Psy­cho­lo­gie ein­ge­bun­den ist, und die sie bedin­gen genau­so wie sie von ihr in unglei­cher Wech­sel­wir­kung bedingt wer­den, bliebe das sub­jek­tive Moment theo­re­tisch willkür­lich.15 Die Unter­su­chun­gen über die auto­ritäre Persön­li­ch­keit sind also von Anfang an dazu aus­ge­legt den Reiz des Faschis­mus nur ‚vom See­le­nende her‘ zu unter­su­chen, aber dieses See­le­nende selbst ist noch ein­mal in eine spe­zi­fisch öko­no­mische und soziale Wirk­li­ch­keit ein­ge­bet­tet. Das wollte Ador­no in die­sem nicht-veröf­fent­lich­ten Kapi­tel ausfüh­ren. Und das for­mu­liert er mit unge­wohn­ter Klarheit : 

Die Struk­tur des Wirt­schafts­sys­tems wirkt sich auf alle men­schli­chen Bezie­hun­gen und selbst auf die innerste Ver­fass­theit des Indi­vi­duums aus. Inso­fern spie­gelt der alles dur­ch­drin­gende Zug der gesell­schaft­li­chen »Ent­frem­dung« weit­ge­hend das Wesen einer Waren­wirt­schaft wider, in der der Mensch als Pro­duzent und Kon­sument von Waren und nicht als Sub­jekt sei­ner Gesell­schaft erscheint. Die Psyche des Indi­vi­duums ist wesent­lich eine Agen­tur, in der die öko­no­mi­schen Gesetze in Eins­tel­lun­gen und Verhal­tens­wei­sen wirk­sam wer­den, ohne dass sich das Indi­vi­duum des­sen bewusst wäre.16

Etwas kom­pli­zier­ter wird es dann wie­der im letz­ten Teil der Bemer­kun­gen über die all­ge­meine psy­cho­lo­gische Theo­rie des Anti­se­mi­tis­mus. Anti­se­mi­tis­mus, stellt Ador­no fest, ist ein objek­ti­ver Kom­plex, des­sen gesell­schaft­liche Macht die Widers­tand­skräfte des ein­zel­nen Indi­vi­duums übers­teigt. Es wäre deshalb eher fragwür­dig wie ein Indi­vi­duum unter sol­chen Bedin­gun­gen nicht anti­se­mi­tisch wer­den kann, als umge­kehrt zu fra­gen, wie es gerade die Stu­die zur auto­ritä­ren Persön­li­ch­keit tut, welche beson­de­ren Dis­po­si­tio­nen jeman­den zum Anhän­ger einer Ideo­lo­gie der Juden­ver­nich­tung tau­glich machen. Trotz­dem soll die psy­cho­lo­gische Ana­lyse, nicht vorei­lig sozio­lo­gi­siert wer­den, wie Ador­no das Erich Fromm und Karen Hor­ney vorwirft. 

Nicht sozio­lo­gierte Psy­cho­lo­gie heißt dem­nach : fast unverän­derte Über­nahme der freud­schen Psy­cho­ana­lyse oder wenig­stens ihres dyna­mi­schen „Cha­rak­ter­mo­dells“, des Zusam­men­spiels von Es, Ich und Übe­rich. Einige Ände­run­gen sieht Ador­no den­noch vor. Nicht über­nom­men sol­len die rein psy­cho­ana­ly­ti­schen Starn­dard-Erklä­run­gen des Anti­se­mi­tis­mus. Weder Freud noch Feni­chel seien darin zu fol­gen den Anti­se­mi­tis­mus aus den ödi­pa­len Trau­ma­ta heraus zu erklä­ren. Solche rein psy­cho­lo­gi­schen Ansätze ver­na­chläs­si­gen einer­seits die kom­pli­zier­tere Wech­sel­wir­kung von Psy­cho­lo­gie und sozioö­ko­no­mi­schem Pro­zess und set­zen ande­rer­seits zu tief an, weil das oppor­tu­nis­tische Ele­ment des zu ana­ly­sie­ren­den Anti­se­mi­tis­mus dadurch etwas zu authen­tisch Persön­liches erhält. Ador­no möchte also Freuds Psy­cho­lo­gie bei­be­hal­ten und zugleich des­sen anthro­po­lo­gi­schen Spe­ku­la­tio­nen fal­len lassen.

Psy­cho­lo­gi­scher Grund­zug des ‘neuen’, natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Anti­se­mi­ten ist Ador­no zufolge des­sen miss­lun­gene Indi­vi­dua­tion. Miss­lun­gene Indi­vi­dua­tion bezeich­net das im Pro­zess der wirt­schaft­li­chen Kon­kur­renz unmö­glich gewor­dene Gleich­ge­wicht von Es, Ich und Übe­rich. Vor allem ein abges­chwächtes Ich, das dem Indi­vi­duum keine persön­liche Auto­no­mie in der erdrü­cken­den Markt­ge­sell­schaft erlaubt, erz­wingt eine all­ge­meine Unterwür­fig­keit – man denkt an David Ries­manns „other-direc­ted­ness“ – führt dazu, dass die psy­chi­schen Phä­no­mene nicht mehr zufrie­dens­tel­lend mit den freud­schen Begrif­fen erklärt wer­den können. 

Aus Ador­nos Behaup­tun­gen folgt dann aber auch, dass der Vor­rang des gesell­schaft­li­chen so zu den­ken ist, dass auch die psy­chische Struk­tur davon beein­träch­tigt und verän­dert wird. Wenn sie aber verän­dert wer­den kann und inso­fern auch wohl ori­gi­nell aus ihrer gesell­schaft­li­chen Ein­bet­tung heraus ents­teht, dürfte man sich wie­der fra­gen mit wel­cher Begrün­dung die Psy­cho­lo­gie, um zutref­fend zu sein, nicht auch irgend­wo sozio­lo­gi­siert wer­den muss. 

Eigent­lich sozio­lo­gi­siert Ador­no selbst schon die freudsche Theo­rie, wenn er sie einem ges­chicht­lich klar bes­timm­ten Fami­lien­ty­pus zuord­net, den es, seit Freuds Tod, so nicht mehr gibt. Deshalb wird die klas­sische psy­cho­ana­ly­tische Theo­rie Ador­no zufolge beim neuen Mas­sen­men­schen unzulän­glich, weil die­ser als Indi­vi­duum einer verän­der­ten Gesell­schafts­form die cha­rak­ter­li­chen Merk­male ver­mis­sen lässt, die ihm von der vik­to­ria­ni­schen Welt der Vor­krieg­szeit ein­ge­wur­zelt wurden. 

Diese Schwie­rig­keit führt dann auch zum schein­ba­ren Para­dox, dass Ador­no zwar einer­seits behaup­tet der ich­sch­wache Mas­sen­mensch könne nach Belie­ben von der „überwäl­ti­gen Maschi­ne­rie“ der Pro­pa­gan­da umge­formt wer­den – was dann in der Tat der Frage Anlass geben würde, wie es unter gewis­sen Bedin­gun­gen möglich sei, nicht Anti­se­mit und Nazi-Anhän­ger zu wer­den – und ande­rer­seits aus der empi­ri­schen Auto­ri­ta­ris­mus-Stu­die schließen muss, dass es ver­schie­dene Arten von Widerstän­den gegen die auto­ritäre Dis­po­si­tion gibt und, dass diese auch sta­tis­tisch häu­fi­ger vor­kom­men als die autoritären.

Ador­nos ‘Bemer­kun­gen’ ver­fol­gen sicher­lich nicht das Ziel diese Kom­pli­ka­tio­nen theo­re­tisch auf­zulö­sen. Sie geben aber einen guten Hin­weis darauf, auf wel­cher Reflexion­se­bene Ador­nos „dia­lek­tische Psy­cho­lo­gie“ die Frage der psy­cho­lo­gi­schen Dis­po­si­tio­nen zu Vorur­teil und Gewalt zu fas­sen vermag. 

Brachte die ›Autho­ri­ta­rian Per­so­na­li­ty‹ Gewinn, so ist der nicht in der abso­lu­ten Ver­bind­li­ch­keit der posi­ti­ven Ein­sich­ten, gar der Meß­zah­len zu suche, son­dern in ers­ter Linie in der Fra­ges­tel­lung, die durch ein wesent­liches gesell­schaft­liches Inter­esse geprägt und in Zusam­men­hang mit einer Theo­rie gerückt ist, die vor­dem kaum in derar­tige quan­ti­ta­tive Unter­su­chun­gen umge­setzt war.17


  1. https://​www​.thsi​mo​nel​li​.net/​a​d​o​r​n​o​-​a​s​p​e​k​t​e​-​d​e​s​-​n​e​u​e​n​-​r​e​c​h​s​t​r​a​d​i​k​a​l​i​s​m​us/
  2. Ador­no, Theo­dor W., u. a. The Autho­ri­ta­rian Per­so­na­li­ty. Ver­so Books, 1950.
  3. Siehe : Decker, Oli­ver, und Elmar Bräh­ler, Heraus­ge­ber. Flucht ins Auto­ritäre : recht­sex­treme Dyna­mi­ken in der Mitte der Gesell­schaft : die Leip­zi­ger Auto­ri­ta­ris­mus-Stu­die 2018. Psy­cho­so­zial-Ver­lag, 2018.
  4. Berg­mann, Shlo­mo. 1943). Some metho­do­lo­gi­cal errors in the Stu­dy of Anti­se­mi­tism. Jewish Social Stu­dies, 5:1. Zitiert in : Ador­no, T. W. (2019) Suhr­kamp Ver­lag. Bemer­kun­gen zu ›The Autho­ri­ta­rian Per­so­na­li­ty‹, S. 37.
  5. Ador­no, Bemer­kun­gen, S. 67.
  6. Hor­khei­mer, Max, und Theo­dor W. Ador­no. Dia­lek­tik der Aufklä­rung : phi­lo­so­phische Frag­mente. 21. Aufl., ungekürzte Ausg, Fischer Taschen­buch Ver­lag, 2013, S. 201 – 211.
  7. Ador­no, Bemer­kun­gen, S. 38.
  8. Ador­no, Bemer­kun­gen, S. 30.
  9. Ador­no, Theo­dor W., Else Fren­kel-Bruns­wik, Daniel J. Levin­son, und Nevitt San­ford. The Autho­ri­ta­rian Per­so­na­li­ty. Stu­dies in Pre­ju­dice. New York : Ver­so Books, 1950, S. 1.
  10. Gla­zer, Nathan. The Alie­na­tion of Modern Man. Com­men­ta­ry, 3:4, 1947, S. 378.
  11. Vehr­kamp, Wolf­gang und Wolf­gang Mer­kel. Popu­lis­mus­ba­ro­me­ter 2018. Popu­lis­tische Eins­tel­lun­gen bei Wäh­lern und Nichtwäh­lern in Deut­schland 2018. Ber­tels­mann Stif­tung, 2018. S. 28.
  12. Ador­no, Bemer­kun­gen, S. 40 .
  13. Obwohl man hier bei Ador­no beide Über­zeu­gun­gen zu fin­den scheint : einer­seits funk­tio­nie­ren Pro­pa­gan­da und Mas­sen­ma­ni­pu­la­tion nur im Zusam­men­wir­ken mit ents­pre­chen­den indi­vi­duel­len Bedürf­nis­sen, ande­rer­seits denkt Ador­no auch, dass die zu ein­fa­chen Verhal­tensbün­deln umge­form­ten Mas­se­nin­di­vi­duen „una­bläs­sig von oben“ ohne wei­te­ren Widers­tand pas­siv gemo­delt werden.(S. Ador­no, Bemer­kun­gen, S. 69 – 70).
  14. “Daß in jenem Werk der Blick auf die sub­jek­ti­ven Momente sich rich­tete, wurde, dem herr­schen­den Zug gemäß, so inter­pre­tiert, als sei die Sozial­psy­cho­lo­gie als Stein der Wei­sen benutzt, wäh­rend sie doch ledi­glich, nach einer berühm­ten For­mu­lie­rung von Freud, dem bereits Bekann­ten ein Neues, Ergän­zendes hin­zufü­gen wollte.“ Ador­no, Bemer­kun­gen, S. 93.
  15. Ador­no, Bemer­kun­gen, S. 26.
  16. Ador­no, Bemer­kun­gen, S. 45.
  17. Ador­no, Bemer­kun­gen, S. 98.