Demokratische Tyrannei

(Zuerst erschie­nen im Maga­zin 1bis19​.de, 14. März 2025)

2020 hat die öffent­liche Debatte über die Demo­kra­tie einen über­ra­schen­den Auf­sch­wung erfah­ren. Dass wäh­rend der Zeit der Lock­downs die demo­kra­ti­schen Grun­drechte der Bewe­gung­sfrei­heit, Ver­samm­lung­sfrei­heit, Beruf­sfrei­heit, Unver­letz­li­ch­keit der Woh­nung und kör­per­li­chen Unver­sehr­theit tief­grei­fend ein­ges­chränkt wur­den, galt als Aus­druck staat­lich verord­ne­ter „demo­kra­ti­scher“ Solidarität.

Das Risiko des Naturzustands 

Nam­hafte Den­ker der par­ti­zi­pa­ti­ven und deli­be­ra­ti­ven Demo­kra­tie sahen darin eine Bestä­ti­gung der demo­kra­ti­schen Ver­fas­sung. Der wohl bekann­teste Ver­fech­ter der demo­kra­ti­schen Teil­habe, der Phi­lo­soph Jür­gen Haber­mas, stellte 2021 in dra­ma­ti­schem Duk­tus fest, unter der Bedro­hung von „Leben und Gesund­heit von Angehö­ri­gen der spe­cies homo sapiens übe­rall auf dem Erd­ball“ befinde sich die Men­sch­heit in einem Krieg der Spe­zies einem Krieg von sowohl bio­lo­gi­scher als auch meta­phy­si­scher Trag­weite. In einer sol­chen Situa­tion hät­ten die „gesetz­lich verord­ne­ten Soli­dar­leis­tun­gen“ (Haber­mas, 2021) des Staates abso­lu­ten Vor­rang vor den Indi­vi­dual­rech­ten. Haber­mas meinte also : Es sei demo­kra­tisch, mehr Dik­ta­tur zu wagen. Denn Indi­vi­dual­rechte erhiel­ten ihren eigent­li­chen gesell­schaft­li­chen Sinn erst in Gegen­satz zum argu­men­ta­ti­ven Kons­trukt des Natur­zus­tandes. Der ver­nunftmäßige Rechts­zus­tand gründe auf dem Vor­rang der gesell­schaft­li­chen Siche­rheit gegen den fik­ti­ven Natur­zus­tand, wo das Leben bekannt­lich „ein­sam, arm, grau­sam, bru­tal und kurz“ (Hobbes) sei.

Ohne gesell­schaft­liche Siche­rheit könne es also keine Frei­heit geben. Deshalb sei es demo­kra­ti­scher, das Leben zu erhal­ten, als eine men­schen­recht­liche Teil­habe an der Dis­kus­sion über die Gefah­ren und ihre Bekämp­fung zu erlau­ben. Der demo­kra­tische Staat solle seine Bür­ger „mit einem tem­porä­ren Rück­fall unter das recht­liche Niveau rei­fer Demo­kra­tien“ von den Risi­ken eines nie dage­we­se­nen Natur­zus­tandes befreien. Die­ser recht­liche Rück­fall sichere den „Schutz des Lebens“, indem er die Prin­zi­pien der Demo­kra­tie aus­nahm­sweise auf­hebt, um schließ­lich nicht nur das Leben, son­dern auch die Demo­kra­tie zu sichern. Folgt man Haber­mas, ist Demo­kra­tie außers­tande, Gefah­ren und Kri­sen zu bewäl­ti­gen. Hieße das dann aber auch, dass es nicht die Demo­kra­tie ist, die vor dem hypo­the­ti­schen Natur­zus­tand ret­tet, son­dern eine Ord­nung unter dem Niveau rei­fer Demokratien ?

Demokratie und Diktatur

Was unter Demo­kra­tie zu vers­te­hen ist, das stellte das wis­sen­schafts­jour­na­lis­tische Maga­zin Quarks in einem Blog­post fol­gen­der Weise dar :

„In einer Demo­kra­tie legen die Men­schen Gesetze für sich selbst fest. Wir ent­schei­den min­des­tens indi­rekt durch die Wahl – alle bei den Geset­zen mit, müs­sen uns aber dann auch alle selbst dran hal­ten. Das Gegen­teil sind auto­kra­tische Herr­schafts­for­men : Hier bes­timmt eine kleine Gruppe von Men­schen, oder auch nur ein Mensch, oft ein Monarch/eine Monar­chin oder Dik­ta­tor. Das Volk ist dann nicht selbst‑, son­dern fremd­bes­timmt“. (Meyer-Geh­len, 2024)

Wir leben also in einer Demo­kra­tie, solange wir alle paar Jahre die Reprä­sen­tan­ten der poli­tisch-demo­kra­ti­schen Macht frei wäh­len. Direkte Demo­kra­tie findet alle vier Jahre wäh­rend der Dauer eines kur­zen Abs­te­chers im Wahlbü­ro statt. Daz­wi­schen gilt die „indi­rekte“ Demo­kra­tie, wo eine kleine Gruppe von Men­schen, die uns reprä­sen­tie­ren, die Gesetze macht. Das heißt : In einer Dik­ta­tur bes­timmt eine kleine Gruppe von Men­schen, was das Volk zu tun hat. In einer Demo­kra­tie bes­timmt eine kleine Gruppe von Men­schen, was das Volk zu tun hat, wäh­rend der Zeit eines demo­kra­ti­schen Man­dats. Was ist der Unter­schied zur Dik­ta­tur ? Bes­teht er darin, dass die kleine Gruppe von Men­schen, die Macht über die Bür­ger ausübt, für eine bes­timmte Dauer vom Volk bes­timmt wurde ? Wäre also die Demo­kra­tie dem­nach eine Art befris­tete Vier­jahres-Dik­ta­tur ? Nord­ko­rea verans­tal­tet alle 5 Jahre Wah­len, bei denen die oberste, reprä­sen­ta­tive Volks­ver­samm­lung, die poli­tische Macht, von den Bür­gern durch ein Ja/Nein bes­timmt wird.

Das minimalistische Modell der Demokratie : Zugang der Eliten zur Macht 

Der Quarks-Jour­na­list greift hier auf das „mini­ma­lis­tische Modell“ der Demo­kra­tie zurück (Mer­kel, 2015). In Kri­sen­zei­ten ver­mag es sich sogar bei Den­kern der par­ti­zi­pa­ti­ven Demo­kra­tie wie Haber­mas dur­ch­zu­set­zen. Die Idee wurde primär vom öster­rei­chi­schen Öko­no­men Joseph Schum­pe­ter (1883 – 1950) geprägt. Schum­pe­ter begriff die Demo­kra­tie als einen Markt, auf dem ver­schie­dene poli­tische Unter­neh­mer ihre Pro­gramme der Nach­frage von Wäh­lern anbie­ten. Der poli­tische Wett­be­werb auf dem Markt der Ideen wird ein­ges­chränkt auf die sich in regelmäßi­gen Abstän­den wie­de­rho­len­den Stim­mab­ga­ben poli­ti­scher Konsumenten.

In die­sem mini­ma­lis­ti­schen Modell des poli­ti­schen Markts dienen die Wahl­ve­rans­tal­tun­gen dazu, die bes­ten, die inter­es­san­tes­ten, die wort­ge­wand­tes­ten oder ein­fach die medial wirk­sam­sten Poli­ti­kan­bie­ter per Abs­tim­mung­sver­fah­ren an die Macht zu brin­gen. Das Modell ist ein prin­zi­piell aris­to­kra­tisches Modell (aus dem grie­chi­schen aris­tos = Bes­ter)[1] . Die mini­male Demo­kra­tie verein­facht den Zugang poli­ti­scher und wirt­schaft­li­cher Eli­ten zur staat­li­chen Macht. Das konnte jeder poli­tische Beo­bach­ter, des­sen Ver­nunft nicht durch­ge­hend von der „betreuen­den Presse“ bes­chä­digt war, spä­tes­tens wäh­rend der Pan­de­mie­jah­ren und der darauf­fol­gen­den Zeit der Kriege in der Ukraine sowie Israel und Gaza seit 2022 bzw. 2023 wahrnehmen. 

Die Urszene der Demokratie als Kritik an Macht und Gewalt

Solche Pro­bleme und die daraus resul­tie­ren­den Fra­gen sind selbst­verständ­lich nicht neu, auch wenn sie heute sys­te­ma­tische Züge anneh­men, die zu den Anfang­szei­ten der moder­nen Demo­kra­tien des 18. Jah­rhun­derts nicht bekannt waren. Den­noch kann man sie prin­zi­piell bis in die Debat­ten um die ame­ri­ka­nische Unabhän­gig­keit zurückverfolgen.

Im spä­ten 18. Jah­rhun­dert, 4 Jahre nach dem Unabhän­gig­keits­krieg, zur Zeit der Debatte um die ame­ri­ka­nische Ver­fas­sung, befass­ten sich James Madi­son, Alexan­der Hamil­ton und John Jay unter ande­rem mit genau die­sen Pro­ble­men in den Fede­ra­list Papers (1787 – 88). Im Kon­text der Loslö­sung der 13 ame­ri­ka­ni­schen Kolo­nien von der bri­ti­schen Monar­chie stellte sich für die neuen Staa­ten vor­ran­gig das Pro­blem der Macht im poli­ti­schen Sys­tem. Macht bedeu­tete für die poli­ti­schen Den­ker der Ver­fas­sung „Herr­schaft eini­ger Men­schen über andere, die men­schliche Kon­trolle über das men­schliche Leben : letzt­lich Gewalt, Zwang“ (Bai­lyn, 2017, S. 82).

Die Debat­ten über die Macht in der Demo­kra­tie spar­ten nicht an Meta­phern. Macht hat eine natür­liche Ten­denz zum Über­griff. Sie ist wie ein „Ozean, der nicht so leicht Gren­zen zulässt“. Sie ist auch ein „Krebs­ges­chwür, das sich stünd­lich schnel­ler aus­brei­tet“. Macht ist ein Appe­tit, der „ruhe­los, stre­bend und unersät­tlich“ ist, ein Kie­fer, der „immer geöff­net“ und bereit ist zu ver­schlin­gen, was ihm bege­gnet. Macht ist übe­rall im öffent­li­chen Leben und zerstört seine „gutar­ti­gen Opfer“ (Bai­lyn, S. 83). Die natür­li­chen Opfer der Macht sind die Frei­heit, die Gerech­tig­keit und das Gesetz. Trotz­dem, so ana­ly­siert der ame­ri­ka­nische His­to­ri­ker Bai­lyn, galt Macht damals nicht als das Böse an sich : Macht ist legi­tim und not­wen­dig, um durch frei­willige Verein­ba­rung gegen­sei­ti­ger Ein­schrän­kung aus dem Natur­zus­tand heraus­zu­tre­ten. Legi­tim ist sie jedoch nur im Dienste der All­ge­mein­heit, für die sie aus­geübt wird, und zum Zweck der Frei­heit. Das Risi­ko des Machtmissbrauchs

Das Pro­blem war den ame­ri­ka­ni­schen Den­kern also nicht die Macht an sich. Das Pro­blem war für sie die Wir­kung der Macht auf die Men­schen, die sie errin­gen und im Namen des Staates ausü­ben kön­nen. Samuel Adams, der Gou­ver­neur von Mas­sa­chu­setts, schrieb, dass die „Ver­dor­ben­heit der Men­schen so groß ist […], dass Ehr­geiz und Macht­gier, die über dem Gesetz ste­hen, […] die vorherr­schen­den Lei­den­schaf­ten in den Brüs­ten der meis­ten sind“ (zitiert nach Bai­lyn, a.a.O.).

Macht­miss­brauch stellt eine Ver­su­chung dar, der Regie­rende kaum widers­te­hen. Aus Macht­miss­brauch ents­teht Des­po­tis­mus, mit dem Des­po­tis­mus geht die Frei­heit ver­lo­ren und mit der ver­lo­re­nen Frei­heit endet die Demo­kra­tie. Der Aus­gang aus dem Natur­zus­tand bedeu­tete also für die ame­ri­ka­ni­schen Revo­lu­tionäre nicht wie für Pro­fes­sor Haber­mas die des­po­tisch-staat­liche Siche­rung vor Infek­tions­ri­si­ken. Sie sahen den Aus­gang aus dem Natur­zus­tand als Über­win­dung der Gefahr einer Herr­schaft eini­ger Men­schen über andere. Die poli­tische Ord­nung sollte die Siche­rheit der Frei­heit orga­ni­sie­ren. Aber diese Siche­rheit durfte nicht ohne Ein­schrän­kung der staat­li­chen Macht ents­te­hen. Die Ver­fas­sung der Staa­tenfö­de­ra­tion sollte deshalb auf dem Prin­zip der Begren­zung, Über­wa­chung und Kon­trolle des Mach­tap­pa­rates auf­ge­baut wer­den. Im Unter­schied zum Habermas‘schen Ver­trauens­vor­schuss in Poli­tik (und Medien) for­der­ten die ame­ri­ka­ni­schen Grün­dervä­ter ein prin­zi­pielles Miss­trauens­vo­tum gegenü­ber dem Staat und den Regierenden.

Die Konstitution der Demokratie

„Kons­ti­tu­tion“ sollte in die­sem poli­ti­schen Kon­text nicht vor­der­grün­dig auf ein ges­chrie­benes Doku­ment oder den Begriff einer Regie­rung­sform ver­wei­sen. Nach John Adams sollte die ame­ri­ka­nische Kons­ti­tu­tion in Ana­lo­gie mit der Kons­ti­tu­tion des poli­ti­schen Kör­pers vers­tan­den wer­den. Auch hier wurde eine reiche Meta­pho­rik ver­wen­det : Die Kons­ti­tu­tion stellt „bes­timmte Eigen­schaf­ten der Ner­ven, Fasern und Mus­keln, oder bes­timmte Qua­litä­ten des Blutes und der Säfte“ dar. Ver­schie­dene die­ser Organe oder Gewebe kön­nen, so Adams, „rich­tig als sta­mi­na vitae [dt. Lebens­nerv oder Lebens­kraft], oder als das Wesent­liche und das Grund­le­gende der Kons­ti­tu­tion bezeich­net wer­den […]; Teile, ohne die das Leben selbst nicht einen Augen­blick erhal­ten wer­den kann“ (zitiert in Bai­lyn, a.a.O.). Wie sollte also eine frei­heit­liche Grun­dord­nung kons­ti­tuiert sein, damit die ruhe­lose und unersät­tliche Lei­den­schaft der Macht trotz ihrer staat­li­chen Kon­zen­tra­tion in Schach gehal­ten wer­den kann ?

Demokratie als Gewalt des Stärkeren und Tyrannei der Mehrheit

Ehe James Madi­son (1751 – 1836) 4. und 5. Prä­sident der Verei­nig­ten Staa­ten wurde (1809 bis 1817), befasste er sich in den Fede­ra­list Papers (1787 – 88) mit dem Pro­blem der poli­ti­schen Sta­bi­lität der Demo­kra­tie. Wenn die Gerech­tig­keit das höchste Ziel einer Demo­kra­tie ist, dann müsse alles daran gesetzt wer­den, dass diese Gerech­tig­keit nicht im demo­kra­ti­schen Pro­zess ver­lo­ren geht. Madi­son hatte einen ande­ren Begriff vom Natur­zus­tand, der durch Demo­kra­tie ein­hegt wer­den müsse, als Habermas :

In einer Gesell­schaft, deren kons­ti­tu­tio­nelle Struk­tu­ren es zulas­sen, dass sich eine stär­kere Fak­tion mit Leich­tig­keit zusam­men­tun und die schwä­chere Fak­tion unter­drü­cken kann, in einer sol­chen Gesell­schaft kann man wahr­lich sagen, es herrsche Anar­chie wie im Natur­zus­tand, wo der Schwä­chere nicht sicher sein kann vor der Gewalttä­tig­keit des Stär­ke­ren. (Hamil­ton & Madi­son. 1788. Fede­ra­list N° 51)

Folgt man Madi­sons Grund­ge­dan­ken, dann ist nicht jede Form von Demo­kra­tie, wie es die demo­kra­ti­schen Mini­ma­lis­ten gerne anneh­men, zwang­släufig gerecht oder demo­kra­tisch. In einer Demo­kra­tie ist es immer möglich, dass stär­kere Fak­tio­nen, also eine kleine Gruppe von Men­schen, die von der Meh­rheit gewählt wur­den, eine Mino­rität unter­drü­cken. Die unde­mo­kra­tische Demo­kra­tie – heute würde man eine solche Variante der Demo­kra­tie als illi­be­rale Demo­kra­tie (Zaka­ria, 1997) oder Post­de­mo­kra­tie (Crouch, 2004) bezeich­nen – ist eine reale Mögli­ch­keit jeder Demokratie.

James Madi­son sah die „Tyran­nei der Meh­rheit“ – die als Begriff gemein­hin dem franzö­si­schen Adli­gen und Monar­chis­ten Alexis de Toc­que­ville zugeord­net wird – als größtes Pro­blem der neuen Demo­kra­tie an. Wäh­rend de Toc­que­ville darin ein tie­feres, gesell­schaft­liches Pro­blem sah, dem mit ins­ti­tu­tio­nel­len oder rechtss­taat­li­chen Mit­teln nicht so leicht bei­zu­kom­men ist, bes­tand für Madi­son diese Gefahr aus­schließ­lich in der ins­ti­tu­tio­nel­len Orga­ni­sa­tion der poli­ti­schen Macht. Schutz durch Machtkontrolle

Wie kann man also – durch ins­ti­tu­tio­nelle Orga­ni­sa­tion – die demo­kra­tische Demo­kra­tie vor der tyran­ni­schen Demo­kra­tie schützen ?

Wären die Men­schen Engel (Kants „reine Ver­nunft­we­sen“), argu­men­tiert Madi­son, bräuch­ten sie keine Regie­rung. Die Indi­vi­duen der Gesell­schaft wür­den von sich aus tun, was gefor­dert wäre, um eine gerechte Demo­kra­tie zu ver­wirk­li­chen. Wür­den die Men­schen (als „end­liche Ver­nunft­we­sen“ mit nicht ratio­na­len Trieb­fe­dern) aber wenig­stens von Engeln regiert wer­den, gäbe es kei­nen Grund, einer sol­chen Regie­rung zu misstrauen.

Da aber weder die Bür­ger noch die regie­ren­den poli­ti­schen Ver­tre­ter Engel sind, bes­teht grund­sätz­lich die Mögli­ch­keit, dass die poli­tische Macht der Demo­kra­tie miss­braucht wird. Deshalb ist es zwar not­wen­dig, den Umgang der Indi­vi­duen durch Gesetze zu bes­tim­men, aber noch wich­ti­ger, die Macht der poli­ti­schen Ver­tre­ter zu bes­chrän­ken und zu kontrollieren.

Die demokratische Regierung als Verschwörung in petto

Macht­kon­trolle und ‑bes­chrän­kung ist für Madi­son das wich­tig­ste Prin­zip der kons­ti­tu­tio­nel­len Orga­ni­sa­tion des demo­kra­ti­schen Sys­tems. Denn wenn die Inter­es­sen und die Gele­gen­hei­ten, diese Inter­es­sen zu ver­wirk­li­chen, zusam­men­tref­fen, gibt es kein Prin­zip und keine Ver­nunft, kei­nen reli­giö­sen Glau­ben und keine mora­li­schen Über­zeu­gun­gen, die die inter­es­sierte Macht noch in Schran­ken hal­ten könnte. Inso­fern der Staat, inso­fern die Regie­rung Zugang zur höchs­ten Macht einer demo­kra­ti­schen Gesell­schaft bedeu­tet, ist sie auch der Ort der höchs­ten Gefahr. Wegen der Macht­kon­zen­tra­tion ist im Grunde jede Regie­rung eine Ver­schwö­rung in pet­to : Indi­vi­duen und Grup­pen von Indi­vi­duen trach­ten not­wen­di­ger­weise danach, sich diese Macht anzuei­gnen, um ihre Inter­es­sen, wenn auch auf Kos­ten der ande­ren Mit­glie­der der Gesell­schaft, dur­ch­zu­set­zen. Wenn diese Indi­vi­duen oder Grup­pen die staat­liche Macht erlan­gen, ist es ihnen ein Leichtes, alle die­je­ni­gen aus­zu­schließen, die sich ihren Inter­es­sen ent­ge­gen­set­zen könn­ten, und alle die­je­ni­gen zu beloh­nen, die ihnen dabei zuträ­glich sind. Sie bedro­hen sowohl das Gemein­wohl als auch die indi­vi­duel­len Rechte.

Fraktionen : Bedingung und Bedrohung der Demokratie zugleich 

Wie endet die Demo­kra­tie, fragt Madi­son ? Durch die Bil­dung von Grup­pen – Frak­tio­nen – mit gemein­sa­men Inter­es­sen oder Lei­den­schaf­ten, die die staat­liche Macht über­neh­men ! Frak­tio­nen sind ein wich­tiges und unumgän­gliches demo­kra­tisches Ins­tru­ment, die Inter­es­sen der Bür­ger zu ver­tre­ten. Frak­tio­nen stif­ten auch Ein­heit und Homo­ge­nität unter den Bür­gern. Aber wie Sig­mund Freud es gut 130 Jahre spä­ter noch ein­mal fests­tel­len wird, begrün­det diese Homo­ge­nität nicht nur den inne­ren Zusam­men­hang einer Gruppe von Indi­vi­duen. Nach außen bedingt sie auch die Kon­trolle, den Aus­schluss und die Unter­drü­ckung von riva­li­sie­ren­den Frak­tio­nen oder Indi­vi­duen. Frak­tio­nen leben dem­nach von der Freund-/Feind-Unter­schei­dung : verei­nend und har­mo­ni­sie­rend nach innen, aus­gren­zend und unter­drü­ckend nach außen.

Deshalb sind Frak­tio­nen die Bedin­gung und die größte Gefahr für die Demo­kra­tie zugleich. Wenn eine die „Feinde“ aus­schließende Gruppe an die Macht kommt, dann bes­timmt diese die Ord­nung der Gesell­schaft. Sie tut dies zwar demo­kra­tisch gewählt, aber den­noch auf Kos­ten der Nicht-Dazu­gehö­ri­gen. Dieses Pro­blem, stellt Madi­son 1787 fest, erklärt das wach­sende Miss­trauen der Bevöl­ke­rung gegenü­ber der Regierung.

Die Bürger vor der Regierung schützen

Wie kann die Bevöl­ke­rung sich vor der die­ser unaus­wei­chli­chen demo­kra­ti­schen Machtü­ber­nahme von Frak­tio­nen schüt­zen ? Es gibt nur zwei Lösun­gen : Man bekämpft ent­we­der die Ursa­chen der Frak­tions-Tyran­nei oder ihre Wirkungen.

Die Ursa­chen­bekämp­fung kann ihrer­seits zwei Wege bes­trei­ten : Der erste Weg bes­teht in der Auf­he­bung der poli­ti­schen Frei­hei­ten, der zweite in der Verein­heit­li­chung der Lei­den­schaf­ten und Inter­es­sen. Was die Auf­he­bung der poli­ti­schen Frei­hei­ten betrifft, befin­det Madi­son, so ist das Heil­mit­tel gefähr­li­cher als das Übel. Eine solche Auf­he­bung wirkt zwar der Bil­dung von Frak­tio­nen ent­ge­gen. Sie besei­tigt aber mit der Bil­dung von Frak­tio­nen glei­ch­zei­tig den Aus­druck der poli­ti­schen Meinungsbildung.

Die Verein­heit­li­chung der öffent­li­chen Mei­nung, die spä­ter (1925) von Wal­ter Lipp­mann in Die ima­ginäre Öffent­li­ch­keit als Steue­rung der öffent­li­chen Mei­nung durch die Eli­ten vor­ges­chla­gen wer­den wird, wirft für Madi­son zwei zen­trale Pro­bleme auf : Die Plu­ra­lität der Mei­nun­gen, Über­zeu­gun­gen, Inter­es­sen und Lei­den­schaf­ten, die die Men­schen von Natur aus unter­schei­den, wür­den dadurch aus­ges­chlos­sen. Die Idee der Demo­kra­tie wäre selbst auf­ge­ho­ben, denn Demo­kra­tie bes­teht im Streit ver­schie­de­ner Inter­es­sen und Mei­nun­gen. Als poli­tisches Sys­tem stellt Demo­kra­tie das Ins­tru­ment dar, die unein­heit­liche Mei­nungs- und Inter­es­sen­viel­falt gewalt­los zu ver­wal­ten, nicht zu glät­ten und zu entfernen.

Aus dem­sel­ben Grund kann es nicht ange­hen, so Madi­son, die Bil­dung von Frak­tio­nen zu unter­bin­den. Auch Frak­tio­nen ents­te­hen unver­meid­lich aus der men­schli­chen Natur. So wird es not­wen­di­ger­weise immer Zusam­me­nar­beit zwi­schen Gleich­ge­sinn­ten und Feind­se­lig­keit zu Anders- und Gegen­ge­sinn­ten geben. Plu­ra­lität führt unumgän­glich zu Streit, Zerwürf­nis und dem Wunsch, Anders­den­kende zu unterdrücken.

Aus die­sem Grund muss man die Demo­kra­tie als wesent­lich insta­bil anse­hen. Sie von den Ursa­chen her zu sta­bi­li­sie­ren – durch Ver­suche, die Men­schen zu ändern oder die gesell­schaft­li­chen Phä­no­mene zu unter­drü­cken – das ist weder wün­schens­wert noch eigent­lich möglich. Die Grün­dervä­ter der ame­ri­ka­ni­schen Demo­kra­tie ste­hen hier klar im Gegen­satz zum Phi­lo­so­phen Haber­mas : Das demo­kra­tische Zusam­men­le­ben ist von Natur aus zer­bre­chlich und die Ursa­chen ihrer Anfäl­lig­keit für Tyran­nei kön­nen und sol­len nicht unter­drückt werden.

Deshalb, schließt Madi­son, bleibt nur noch die Mögli­ch­keit, auf die Wir­kun­gen die­ser mögli­chen Zer­ris­sen­heit und Feind­se­lig­keit mit ihren jeweils auto­ritä­ren Ans­prü­chen ein­zu­wir­ken. Allein auf die­ser Ebene kön­nen poli­tische Lösun­gen für eine Demo­kra­tie einen Sinn erge­ben. Für Madi­son kann es nur eine ins­ti­tu­tio­nelle Lösung für die Insta­bi­lität der Demo­kra­tie geben. Ins­ti­tu­tio­nell heißt zual­le­rerst recht­lich : Nur eine Gesetz­ge­bung, eine Ver­fas­sung, die es ver­mag, die Plu­ra­lität der Inter­es­sen und Lei­den­schaf­ten auf eine gerechte Art und Weise zu regu­lie­ren, kann den Inter­es­sen­kampf im Rah­men des demo­kra­ti­schen Sys­tems am Leben erhalten.

Aufteilung der demokratischen Macht

Madi­son hatte kei­nen Grund zu glau­ben, dass Regie­rende oder Gesetz­ge­ber Engel sind. Auch sie wer­den von Lei­den­schaf­ten bewegt. Man kann nicht erwar­ten, dass sie bes­sere, vernünf­ti­gere, mora­li­schere oder anstän­di­gere Men­schen sind als andere Bür­ger. Eine solche Gele­gen­heit wie die von 2020 kann sie jeder­zeit in Ver­su­chung füh­ren. Für die Demo­kra­tie sind sie ungleich gefähr­li­cher als ihre Kritiker.

Denn wäh­rend der „Durch­sch­nittsbür­ger“ keine Mögli­ch­keit hat, die Macht eines Staates in seine Rich­tung zu zwin­gen, kann der Gesetz­ge­ber dies mit Leich­tig­keit errei­chen. Er kann Anders­den­kende unter­drü­cken, aus­schließen oder all­ge­mein benach­tei­li­gen. Macht­miss­brauch, Begüns­ti­gung, Kor­rup­tion, Unge­rech­tig­keit, Mani­pu­la­tion und Auto­ri­ta­ris­mus gehö­ren zu den rea­len Mögli­ch­kei­ten (und zur poli­ti­schen Wirk­li­ch­keit) des Gesetz­ge­bers : Sie bes­tim­men sein Den­ken und Han­deln maß­ge­blich mit. In der Demo­kra­tie stel­len Regie­rung und Gesetz­ge­bung also die pri­vi­le­gier­ten Orte der Tyran­nei dar, weshalb es einer größtmö­gli­chen Auf­tei­lung der ins­ti­tu­tio­na­li­sier­ten Macht bedarf :

„Die Anhäu­fung aller Gewal­ten, Legis­la­tive, Exe­ku­tive und Judi­ka­tive, in den­sel­ben Hän­den, sei es in denen eines Ein­zel­nen, eini­ger weni­ger oder vie­ler, und sei es durch Erb­folge, Selbs­ter­nen­nung oder Wahl, kann zu Recht als die eigent­liche Defi­ni­tion von Tyran­nei bezeich­net wer­den […] Die Struk­tur der Regie­rung muss für ein ange­mes­senes Sys­tem der gegen­sei­ti­gen Kon­trolle und des Aus­gleichs zwi­schen den ver­schie­de­nen Abtei­lun­gen sor­gen“ (Madi­son & Hamil­ton, Fede­ra­list No. 51).

Fazit : Dissens als Wesen der Demokratie

Folgt man die­sen Grün­dervä­tern der Fede­ra­list Papers, dann sind die Pro­bleme der Demo­kra­tie kei­nes­falls durch Verein­heit­li­chung und Kon­sens zu lösen, wie es der Phi­lo­soph Haber­mas meint. Sie dach­ten umge­kehrt, die Gesell­schaft müsse in ihren Über­zeu­gun­gen so vielfäl­tig und gegensätz­lich wie möglich orga­ni­siert wer­den. Sie mein­ten gerade nicht (wie Haber­mas), die Demo­kra­tie dürfe unter das demo­kra­tische Niveau zurück­fal­len, um sich selbst zu retten.

Im Gegen­teil : Die macht­po­li­tisch zen­tral verord­nete Soli­da­rität im Han­deln und der Dik­tat­kon­sens der Öffent­li­ch­keit im Den­ken und Reden sol­len mit­tels einer unum­kehr­ba­ren Auf­tei­lung der Macht (Poly­ar­chie) den deli­be­ra­ti­ven Pro­zess der Öffent­li­ch­keit stär­ken und schüt­zen. Demo­kra­tie soll ihr Fun­dament im Aushan­deln einer Plu­ra­lität von Mei­nun­gen, Infor­ma­tio­nen und Wis­sen finden, nicht in der „schüt­zen­den“ Gewalt eines auto­ritä­ren Staates, der ent­schei­den darf, wann und worü­ber mit­bes­tim­mende poli­tische Teil­habe stattfin­den darf. 

Literatur

  • Bai­lyn, Ber­nard. 2017. The Ideo­lo­gi­cal Ori­gins of the Ame­ri­can Revo­lu­tion. Fif­tieth anni­ver­sa­ry edi­tion. Cam­bridge, Mas­sa­chu­setts : The Belk­nap Press of Har­vard Uni­ver­si­ty Press.
  • Conway, E. M., & Oreskes, N. (2012). Mer­chants of Doubt : How a Hand­ful of Scien­tists Obs­cu­red the Truth on Issues from Tobac­co Smoke to Glo­bal War­ming. Lon­don : Bloom­sbu­ry Publishing.
  • Crouch, C. (2004). Post-Demo­cra­cy : A Socio­lo­gi­cal Intro­duc­tion. Cam­bridge : Polity.
  • Haber­mas, Jür­gen. 2015. „Mer­kels Grie­chen­land-Poli­tik ist ein Feh­ler“. Süddeutsche.de, Juni 22.
  • Haber­mas, Jür­gen. 2021. „Coro­na und der Schutz des Lebens“. Blät­ter für deutsche und inter­na­tio­nale Poli­tik (Sep­tem­ber 21): 65 – 78.
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[1] Genau­ge­nom­men sind wie­de­rho­lende Wah­len sowohl aris­to­kra­tisch, elitär als auch demo­kra­tisch (Manin, 2012, S. 191 – 194).