Wissenschaft und geistige Gesundheit

La redé­fi­ni­tion actuelle de la mala­die entraîne […] « une tran­si­tion du corps phy­sique vers un corps fis­cal ». En effet, les cri­tères sélec­tion­nés qui classent tel ou tel cas comme pas­sible de soins cli­ni­co-médi­caux sont en nombre crois­sant des para­mètres finan­ciers.1

2001 schon warnte die Welt­ge­sund­heit­sor­ga­ni­sa­tion (WGO) in Zusam­me­nar­beit mit der Oxford Uni­ver­si­ty und der Welt­bank, dass 25% der Welt­bevöl­ke­rung, also jeder vierte Erden­be­woh­ner, Pro­bleme mit der geis­ti­gen Gesund­heit habe. Ten­denz steigend.

Dass diese erschre­ckende Prä­va­lenz der Geis­tes­kran­khei­ten – oder poli­tisch kor­rek­ter : der geis­ti­gen Stö­run­gen – irgend­wie in Ver­bin­dung mit sozioö­ko­no­mi­schen Fak­to­ren und Katas­tro­phen steht, wird zwar im Welt­be­richt erwähnt aber nicht wei­ter kom­men­tiert. Nicht kom­men­tiert und nicht ein­mal erwähnt wird die viel­leicht auch nicht nebensä­chliche Tat­sache, dass seit 1952 ganze 413 „psy­chi­schen Stö­run­gen“ hin­zu­ge­kom­men sind. 

Hat­ten ein Psy­chia­ter oder ein Psy­cho­loge vor 60 Jah­ren die Mögli­ch­keit eine Per­son auf 128 Wei­sen als „krank“ oder „gestört“ ein­zus­tu­fen, so haben die­sel­ben seit 2013 beein­dru­ckende 541 mögliche Diag­no­sen zu ihrer Verfügung. 

Alleine zwi­schen 2000 und 2013 hat die Ame­ri­ka­nische Psy­chia­trische Verei­ni­gung 158 neue „Stö­run­gen“ zur offi­ziel­len Liste hin­zu­gefügt.2

Auf der einen Seite sollte man also den­ken, dass geis­tige Kran­khei­ten von sol­chen Klas­si­fi­zie­rung­ssys­te­men rein objek­tiv ‚bes­chrie­ben‘ wer­den. Mit ande­ren Wor­ten : geis­tige Kran­khei­ten exis­tie­ren als Entitä­ten ganz unabhän­gig von jeder Glie­de­rung und Auf­tei­lung, los­gelöst von allen Theo­rien oder Nor­men, ähn­lich wie natür­liche Objekte in der Welt, die von unse­rer Anschauung nicht im gering­sten tan­giert werden.

Und auf der ande­ren Seite scheint es zwar einen Zusam­men­hang zwi­schen die­sen Kran­khei­ten und der Außen­welt zu geben, aber die Frage der Gesund­heit betrifft dann trotz­dem an ers­ter Stelle uns selbst, unse­ren Geist, unser innerstes Selbst. Wenn es um Gesund­heit geht, kön­nen und sol­len wir dann trotz­dem von der Welt abse­hen und unse­ren Blick alleine auf den Ort der Erschei­nung von ‚Kran­kheits­zei­chen‘, auf unser Innen­le­ben einschränken.

Und für diese geis­tige Gesund­heit gibt es heute über 300 soge­nannte wis­sen­schaft­liche Psy­cho­the­ra­pie­for­men.3 Wis­sen­schaft­liche Psy­cho­the­ra­pien sind The­ra­pien, die unsere persön­li­chen geis­ti­gen Pro­bleme mit größtmö­gli­cher Wirk­sam­keit und Kos­te­nef­fi­zienz lösen, damit wir wie­der zu stö­rung­sfreien Mitbür­gern und Mitar­bei­tern werden.

Was auch immer Wis­sen­schaft hier heißt, der psy­cho­lo­gische Schlüs­sel­reiz der alleine vom Wort „Wis­sen­schaft“ aus­geht dürfte schwer zu über­schät­zen sein. Denn das Ertö­nen des Wortes „Wis­sen­schaft“ schließt in der Regel jedes wei­tere Nach­den­ken aus und ersetzt es mit dem ehrfürch­ti­gen Gefühl, dass alles in bes­ter Ord­nung ist.

Wie aber sehen diese wis­sen­schaft­li­chen Ret­tungs­mit­tel aus ?

Im Prin­zip ist eine Psy­cho­the­ra­pie dann wis­sen­schaft­lich, wenn sie bei wohl nor­mier­ten Ver­su­chen und anhand von sehr kur­zen Serien von the­ra­peu­ti­schen Inter­ven­tio­nen nach­wei­sen kann, dass eine beo­bacht­bare ‘Ver­bes­se­rung’ eines ungüns­ti­gen Aus­gang­szus­tandes statt­fin­det. Beo­bacht­bar ist diese Ver­bes­se­rung aller­meis­tens aber nur vom sub­jek­ti­ven Emp­fin­den des Pro­ban­den selbst, nicht von der die Mes­sung ausfüh­ren­den ‚Wis­sen­schaft­lern‘.

Da diese sub­jek­ti­ven Ände­run­gen immer gleich meh­rere Erklä­run­gen zulas­sen könn­ten (wie sollte man, z.B. den Impakt der Gefäl­lig­keit oder Gehor­sam­keit gegenü­ber Auto­ritä­ten in sol­chen Kon­fi­gu­ra­tio­nen über­zeu­gend aus­schließen), da diese Sub­jek­ti­vität der von Pro­ban­den selbst-berich­te­ten Befunde also prin­zi­piell nie ein­deu­tig ist, wer­den die wis­sen­schaft­li­chen Ans­prüche schon alleine beim Ver­mes­sen von Wir­kun­gen aufs emp­find­lichste strapaziert. 

Abhilfe sol­len hier quan­ti­fi­zierte Ein­schät­zun­gen von nume­ri­schen Lei­dens-Ska­len und Fra­ge­bo­gen schaf­fen. Dadurch, dass die berich­te­ten Emp­fin­dun­gen in Zif­fern über­setzt wer­den und die sub­jek­tive Varia­bi­lität auf stan­dar­di­sierte, vor­for­mu­lierte Ant­wor­ten ein­gedämmt wer­den, soll dort Objek­ti­vität ges­chaf­fen wer­den wo zur Sub­jek­ti­vität der Befunde eigent­lich noch künst­liche Über­set­zung­spro­bleme und gez­wun­gene Anglei­chun­gen hinzukommen. 

Wie dem auch sei begrenzt sich Wis­sen­schaft hier auf eine Tech­nik der Vorher-Nach­her-Mes­sun­gen eines sub­jek­ti­ven Emp­fin­dens von spe­ziell für die­sen Zweck auser­le­se­nen Probanden. 

Die wis­sen­schaft­li­ch­keit einer Psy­cho­the­ra­pie ents­teht aus einer stan­dar­di­sier­ten Pro­ze­dur, die Ver­gleiche zwi­schen den ver­schie­dens­ten Psy­cho­tech­ni­ken im Hin­blick auf beo­bacht­bare Ände­rung erlaubt. Sie ist eine Tech­nik des Inven­tars quan­ti­fi­zier­ter und durch kurz­zei­tige Anwen­dun­gen von Psy­cho­tech­ni­ken her­vor­ge­brach­ter Verän­de­run­gen, die sich sta­tis­tisch abzäh­len und dars­tel­len las­sen. Anders gesagt : Wis­sen­schaft ist hier eine Tech­nik, die den Erfolg von Tech­ni­ken bemisst. 

Die Tat­sache, dass Wis­sen­schaft ein­mal dadurch defi­niert wurde, dass sie sich um Erklä­run­gen bemühte, dass sie Erklä­rung­shy­po­the­sen und Modelle kons­truierte und Wis­sen durch das Erken­nen und Ers­tel­len von kau­sa­len Zusam­menhän­gen erwei­terte oder in Frage stellte, scheint in die­sem Zusam­men­hang läng­st ver­ges­sen. In der wis­sen­schaft­li­chen Psy­cho­the­ra­pie wurde Wis­sen­schaft auf sta­tis­tische Qua­litäts­si­che­rung umfunktioniert.

Mit die­ser Umwand­lung geht die neue ‚Wis­sen­schaft‘ der Psy­cho­the­ra­pie noch einen ent­schei­den­den Schritt wei­ter als jeder bisher bekannte Posi­ti­vis­mus. Selbst der här­teste der moder­nen Posi­ti­vis­men, der Sen­sua­lis­mus, begnügte sich nie mit der Aufzäh­lung ein­fa­cher Sin­ne­sein­drücke. Auch hier galt das Beo­bacht­bare stets nur im Hin­blick auf ein Wis­sen, das über das fests­tel­lende Wis­sen-dass hinaus auf ein Wis­sen-warum abzielt. Wis­sen­schaft hebt zwar mit der Beo­bach­tung an, begrenzt sich aber nie auf die Beobachtung. 

Die Gründe weshalb die­ser neue Posi­ti­vis­mus eine nicht-theo­re­tische und sogar anti-theo­re­tische Rich­tung annahm kön­nen nur erra­ten wer­den, da er zwar von allen neuen Psy­cho­the­ra­pie­wis­sen­schaft­lern über­nom­men, aber nie aus­for­mu­liert oder sogar reflek­tiert wurde. 

Faden­schei­nige Argu­mente von der Art, dass Theo­rien eigent­lich immer nur ver­kappte oder vers­teckte Ideo­lo­gien sind, und Ideo­lo­gien in der Wis­sen­schaft kei­nen Platz haben sind bes­ten­falls zir­kulär. Auch erklä­ren sie in kei­ner Weise weshalb Wis­sen­schaft gerade das Wis­sen einer blin­den, tech­ni­schen Effi­zienz opfern sollte. 

Die Kon­se­quen­zen die­ser Umwand­lung der Wis­sen­schaft in inhalts­lose Wir­kung­sin­ven­tare sind leich­ter zu fas­sen. Als Qua­litäts­kon­trolle der Wirk­sam­keit ver­schie­de­ner The­ra­pie-Tech­ni­ken, kann die Wis­sen­schaft sowohl von der Art des Ein­griffs wie von sei­ner spe­zi­fi­schen Wir­kung­sweise abse­hen. Als Tech­ni­ken wer­den Psy­cho­the­ra­pien also beliebig.

Daher fin­den sich im Kata­log der wis­sen­schaft­li­chen Psy­cho­the­ra­pien die denk­bar unter­schied­lichs­ten Metho­den in per­fek­ter wis­sen­schaft­li­cher Gleichgül­tig­keit. Denn wenn es ums Funk­tio­nie­ren geht, sind alle the­ra­peu­ti­schen Metho­den selbst nur noch belie­bige Mit­tel zu einem ein­zi­gen, vor­bes­timm­ten Zweck. Und nur das Errei­chen dieses einen Zwecks bes­timmt den Sinn der auf­ge­brach­ten Mittel.

Von der Denk­feh­ler-The­ra­pie zur kon­zen­trier­ten Gedan­ken­lo­sig­keit der Acht­sam­keits­the­ra­pie, von der Verhal­tens­kor­ri­gie­rung zur Akzep­tanz- und Verp­flich­tungs­the­ra­pie, von der pro­gres­si­ven Mus­ke­lents­pan­nung zur Jog­ging­the­ra­pie, ja sogar von der alt­mo­di­schen Psy­cho­ana­lyse hin bis zur post­mo­der­nen nar­ra­ti­ven The­ra­pie kann alles was eine Verän­de­rung unter kon­trol­lier­ten Bedin­gun­gen nach­zei­gen als wis­sen­schaft­lich gel­ten. Und was wis­sen­schaft­lich ist hilft, immer, in allen Situa­tio­nen und Lebens­la­gen und bei jedem. 

Selbst­verständ­lich ist unter die­sen Voraus­set­zun­gen auch das Beten hil­freich. Fran­cis Gal­ton, der Vater der « wis­sen­schaft­li­chen Ver­bes­se­rung der Rasse », der Euge­nik, hat die the­ra­peu­tische Wirk­sam­keit des Betens schon 1872 nach neues­ten wis­sen­schaft­li­chen Metho­den sta­tis­tisch nach­ge­wie­sen. Und 2016 wurde diese Wirk­sam­keit noch­mals von sehr seriö­sen Wis­sen­schaft­lern in einer Metas­tu­die bestä­tigt.4 Empi­risch fun­dierte, wis­sen­schaft­liche Bet­the­ra­pie ? Kein Problem. 

Im Bereich des Geistes, im Bereich der geis­ti­gen Gesund­heit ist alles was hilft Wis­sen­schaft. Und umge­kehrt : nur Wis­sen­schaft bringt Hilfe, nur Wis­sen­schaft behebt die Stö­run­gen des Funk­tio­nie­rens. Und sie tut das auch noch bei größtmö­gli­cher Kos­te­nef­fi­zienz. Wis­sen­schaft – das wäre eine zweite wich­tige Qua­lität – spart Geld ! Denn wer immer gut funk­tio­niert ist weni­ger krank und kos­tet deshalb auch weniger. 

Die Patien­ten, so for­mu­lie­ren es die psy­cho­the­ra­peu­ti­schen Exper­ten, ver­die­nen die bes­ten Hei­lung­smit­tel die der Markt bie­tet. Und in der Tat funk­tio­nie­ren diese Psy­cho­the­ra­pien nach den­sel­ben ratio­na­len Qua­litäts- und Effi­zienz­kri­te­rien, die auch den Markt selbst bes­tim­men. Gut funk­tio­nie­rende The­ra­pie­mit­tel zur Hers­tel­lung der gut funk­tio­nie­ren­den Men­schen auf dem Markt. Somit dürfte die psy­cho­the­ra­peu­tische Wis­sen­schaft selbst noch den Markt gesün­der ges­tal­ten, indem sie jeden Betrug und jede Hochs­ta­pe­lei als mark­tau­gliche Inef­fi­zienz auslotet.

Damit kön­nen wir jetzt das Men­schen­bild der wis­sen­schaft­lich-kos­te­nef­fi­zien­ten Psy­cho­the­ra­pie nach­zeich­nen. Und dieses Men­schen­bild hat selbst­verständ­lich sei­nen wohl­geord­ne­ten Platz in der präs­ta­bi­lier­ten Har­mo­nie des Marktes : ein gesun­der Mensch ist ein effi­zien­ter Mensch ; ein Mensch, der ohne Stö­rung funk­tio­niert. Ein gesun­der Mensch ist ein Mensch, der dienstfä­hig und rüs­tig Mehr­wert schafft, seine Steuern zahlt und weder den Staat noch den Arbeit­ge­ber zu viel Kran­ken­geld kostet.

Aber selbst die Welt­ge­sund­heit­sor­ga­ni­sa­tion zeigt sich nicht immer so neo­li­be­ral. Im Kon­text von Fra­gen der Men­schen­rechte ver­mag auch die Welt­ge­sund­heit­sor­ga­ni­sa­tion einen deut­lich dif­fe­ren­zier­te­ren Bli­ck­win­kel auszudrücken.

Im Hand­buch zur psy­chi­schen Gesund­heit liest man zum Bei­spiel, dass „die Defi­ni­tion der psy­chi­schen Stö­run­gen von einer Mehr­zahl von Fak­to­ren abhängt“.5 Und unter die­sen Fak­to­ren zählt die WGO unter ande­ren „soziale, kul­tu­relle, wirt­schaft­liche und juris­tische Kon­texte in ver­schie­de­nen Gesell­schaf­ten“ auf. 

Weit ent­fernt davon ein medi­zi­nisches oder natur­wis­sen­schaft­liches Fak­tum zu sein, erscheint der Begriff der psy­chi­schen Gesund­heit, und damit auch der Begriff der psy­chi­schen Stö­run­gen hier als ein kom­plexes Kon­glo­me­rat aus unter­schied­li­chen Misch­ve­rhält­nis­sen, in denen die Wis­sen­schaft ein mögli­cher Fak­tor unter vie­len ist. 

Wei­ter­ge­hend weist du WGO auch darauf hin, dass zahl­reiche „Kon­su­men­te­nor­ga­ni­sa­tio­nen“ selbst die Fachaus­drücke der „psy­chi­schen Kran­kheit“ oder des „psy­chi­schen Patien­ten“ infrage stel­len, da diese das „medi­zi­nische“ Modell der Stö­run­gen begünstigen. 

Und sogar der gewollt neu­trale Begriff­ser­satz der „psy­chi­schen Stö­rung“ scheint selbst der WGO alles andre als klar. Inso­fern die „psy­chische Stö­rung“ unter einem ein­zi­gen Begriff so ver­schie­denes bezeich­nen soll wie „geis­tige Kran­kheit“, „Retar­die­rung“, „Persön­li­ch­keitsstö­run­gen“ und „Dro­gen­sucht“ erweist sie sich als so unscharf, dass sich nir­gends mehr ein gemein­sa­mer Nen­ner aus­ma­chen lässt. Damit fällt aber dann sowohl die wis­sen­schaft­liche Relia­bi­lität als die empi­rische Vali­dität des Begriffs.


Notes :

  1. Illich, I. (1999). L’obsession de la san­té par­faite. Abge­ru­fen 22. Februar 2019, von https://​www​.monde​-diplo​ma​tique​.fr/​1​9​9​9​/​0​3​/​I​L​L​I​C​H​/​2​855
  2. Roger K. Bla­sh­field u. a., „The Cycle of Clas­si­fi­ca­tion : DSM‑I Through DSM‑5“, Annual Review of Cli­ni­cal Psy­cho­lo­gy 10, Nr. 1 (28. März 2014): 25 – 51. 
  3. Kaz­din, A. (2016, June 09). Evi­dence-Based Psy­cho­the­ra­pies. Oxford Research Ency­clo­pe­dia of Psy­cho­lo­gy.
  4. S. Simão, T., Cal­dei­ra, S., & de Car­val­ho, E. (2016). The effect of prayer on patients’ health : sys­te­ma­tic lite­ra­ture review. Reli­gions, 7(1), 11.
  5. Free­man, M., Pathare, S., & World Health Orga­ni­za­tion (Hrsg.). (2005). WHO resource book on men­tal health, human rights and legis­la­tion. Gene­va : World Health Orga­ni­za­tion, S. 20.