Adorno : Negative Dialektik und Kritik des Positiven

Die Nega­tive Dia­lek­tik zählt neben den Mini­ma Mora­lia und der unab­ges­chlos­se­nen Ästhe­ti­schen Theo­rie zu den Haupt­wer­ken Ador­nos. Ador­no selbst zählte noch die, heute etwas in den Hin­ter­grund getre­tene, Meta­kri­tik der Erkennt­nis­theo­rie hin­zu. Diese, zwi­schen 1938 und 1956 ents­tan­dene Hus­serl­kri­tik trägt Spu­ren des Kampfs des jun­gen Dok­to­ran­den mit dem, an den dama­li­gen deut­schen Uni­ver­sitä­ten herr­schen­den, Neu­kan­tia­nis­mus, vorab wohl mit dem seines Leh­rers Hans Cornelius.
Nega­tive Dia­lek­tik – der Titel als Pro­gramm von Ador­nos Den­ken ins­ge­samt – klingt auch, als Fort­set­zung in eige­ner Sache, an die, zusam­men mit Max Hor­khei­mer ver­fasste Dia­lek­tik der Aufklä­rung, des ers­ten Mani­fests der „kri­ti­schen Theo­rie“, an. 

„Das Ganze ist das Unwahre.“
Als Marx die Ver­mit­tlung des kul­tu­rel­len und ideo­lo­gi­schen Über­baus durch die wirt­schaft­liche Basis dachte, schie­nen ihm noch meh­rere Orte von die­sen Inter­es­sen unberührt. Kunst­werke, aber auch Phi­lo­so­phie zählte Marx nicht sys­te­ma­tisch zur Ideo­lo­gie als fal­schem Bewusst­sein. Der Ort des Den­kens konnte sich somit noch fast unverdäch­tig der, durch das Klas­sen­be­wus­stein, ent­zif­fer­bar gewor­de­nen Welt des Kapi­ta­lis­mus gegenü­bers­tel­len. In Hor­khei­mers’ und Ador­nos’ Dia­lek­tik der Aufklä­rung ist dieses gute Gewis­sen ent­sch­wun­den. Nicht nur hat sich der Mar­xsche Umsch­wung der Gesell­schaft nie ver­wirk­licht – anders als Lukács sahen weder Ador­no noch Hor­khei­mer die Sow­je­tu­nion als Inkar­na­tion des Kom­mu­nis­mus Mar­x­scher Fak­tur – son­dern wurde, in fast iro­ni­scher Umkeh­rung, von der Pro­duk­tion verein­nahmt.
„ Phi­lo­so­phie die ein­mal übe­rholt schien, schreibt Ador­no ganz am Anfang der Nega­ti­ven Dia­lek­tik, erhält sich am Leben, weil der Augen­blick ihrer Ver­wirk­li­chung versäumt ward.“ Phi­lo­so­phie all­ge­mein steht hier für die Mar­xsche im beson­de­ren. Ent­ge­gen der 11. Feuer­bach­these wäre also die Welt nicht noch ein­mal zu ändern, son­dern erst anders zu inter­pre­tie­ren. Phi­lo­so­phie, die nicht im wirt­schaft­li­chen, sozia­len, wis­sen­schaft­li­chen oder uni­ver­sitä­ren Betrieb ‘posi­tiv’ mit­macht, und die abso­lute Ver­mit­tlung somit ava­lierte, wäre dann nur noch möglich als Kri­tik : als Kri­tik am Posi­ti­ven.
In den, im die­sem Jahr erschie­ne­nen Vor­le­sun­gen zur Nega­ti­ven Dia­lek­tik, erläu­tert Ador­no diese Kri­tik des Posi­ti­ven ein­ge­hen­der. Bezeich­nend für den Begriff des Posi­ti­ven, bemerkt Ador­no, ist seine Dop­pel­deu­tig­keit. Das Posi­tive, im Sinne des Posi­ti­vis­mus bezeich­net einer­seits das Gege­bene, das was sich an Daten oder Fak­ten hält, ande­rer­seits aber auch das zu Beja­hende, das Gute, das Ideale. In die­ser seman­ti­schen Zwei­deu­tig­keit ver­birgt sich eine gän­gige Bewusst­seins­kons­tel­la­tion. Was ist, das Fak­tum, erscheint hier als das Sein­sol­lende, das Gute. So wird noch die Mögli­ch­keit einer Kri­tik am Bes­te­hen­den durch die impli­zite Moral des Posi­ti­ven sko­to­mi­siert. Dem­ge­genü­ber buchs­ta­biert nega­tive Dia­lek­tik, als Inter­pre­ta­tion, das Fak­tum als gesell­schaft­liche Hie­ro­glyphe (Marx).

„Es gibt kein rich­tiges Leben im fal­schen.“
Was nach Ador­no für das Leben im all­ge­mei­nen zutrifft stellt auch die kri­tische Theo­rie vor eine beson­dere Schwie­rig­keit. An wel­chem Ort, im fal­schen Gan­zen, kann sich der Kri­ti­ker des Anhalts­punktes sei­ner Kri­tik ver­ge­wis­sern ? Der Blick vom Mond des „intro­ver­tier­ten Gedan­ke­nar­chi­tek­ten“ ist mit der Bes­chla­gnah­mung dieses Mondes durch „extro­ver­tierte Tech­ni­ker“ so wenig ver­trauenswür­dig, wie die Rück­kehr zu einem resi­dua­len Cogi­to das jedem Zwei­fel stand­hielte. Denn als trans­zen­den­tales Sub­jekt erweist sich auch dieses letz­tere als ideo­lo­gische Verklä­rung des berech­nen­den Bewusst­seins eines Homo Oeco­no­mi­cus.
In sei­nem Begriff der Ges­chichte ent­warf Wal­ter Ben­ja­min fol­gendes Bild : es gab einen Scha­chau­to­ma­ten, eine Puppe „in tür­ki­scher Tracht, eine Was­serp­feife im Munde“, die es mit den bes­ten Spie­lern auf­neh­men konnte und keine Par­tie ver­lor. Schein­bar durch­sich­tig von außen, ver­barg sie jedoch einen buck­li­gen Zwerg in ihrem Innern „der ein Meis­ter im Schach­spie­len war“. So soll es, Ben­ja­min zufolge, auch um den his­to­ri­schen Mate­ria­lis­mus ste­hen, der es dann mit jedem auf­neh­men kann, wenn er die Theo­lo­gie, „heute bekannt­lich klein und häss­lich“, in sei­nen Dienst nimmt.
Nicht jedoch der Glaube an einen ret­ten­den Gott, wie es sich Hei­deg­ger erhoffte, verbürgt einen Ansatz, son­dern eine beson­dere Bli­ckrich­tung : „Phi­lo­so­phie, schreibt Ador­no im 153. Apho­ris­mus der Mini­ma Mora­lia, wie sie im Ange­sicht der Verz­wei­flung ein­zig noch zu verant­wor­ten ist, wäre der Ver­such, alle Dinge so zu betrach­ten, wie sie vom Stand­punkt der Erlö­sung sich dars­tel­len. Erkennt­nis hat kein Licht, als das von der Erlö­sung her auf die Welt scheint : alles andere erschöpft sich in Nach­kons­truk­tion und bleibt ein Stück Technik.“

Kunst und Symp­tom als Uto­pie
Den Ort der Erlö­sung fin­det Ador­no in der Kunst und im Symp­tom, dem Aus­druck der psy­chi­schen Dis­so­nanz.
Als Uto­pie – ety­mo­lo­gisch ort­los – verhält sich Kunst anti­the­tisch zur Welt ; also zuerst ein­mal nega­tiv. Kunst ist nach Ador­no keine Nachah­mung der Wirk­li­ch­keit, son­dern höchs­tens Nachah­mung des­sen, was in der Wirk­li­ch­keit über die­selbe hinaus­weist. Somit vers­pricht Kunst Versöh­nung der Widers­prüche : die Wirk­li­ch­keit erscheint ihr im Licht der Erlö­sung. Als Schein der Versöh­nung bleibt Kunst jedoch wie­de­rum in sich selbst zwiespäl­tig, denn in ihrem ästhe­ti­schen Gelin­gen schlägt sie in Unwah­rheit um. So lebt sie nur als stän­di­ger Balan­ceakt zwi­schen ihrem Gelin­gen im Kunst­werk und dem Kampf gegen ihren ästhe­ti­schen Schein.
Eine ähn­liche Dia­lek­tik sieht Ador­no im Symp­tom. Die zeit­gemäße Psy­cho­pa­tho­lo­gie verkör­pert sich in der Nor­ma­lität des „regu­lar guy“ oder „popu­lar girl“. Nur tief­ste Verstüm­me­lung ermö­glicht die Hölle „in der die Defor­ma­tio­nen geprägt wer­den, die spä­ter als Fröh­li­ch­keit, Auf­ges­chlos­sen­heit, Umgän­gli­ch­keit, als gelun­gene Ein­pas­sung ins Unver­meid­liche […] zutage kom­men“. Lei­der verhält es sich, umge­kehrt, mit der Gesund­heit der Kran­ken nicht anders. Auch diese bleibt, als Variante des glei­chen Sche­mas, in repres­si­vem Trieb­ver­zicht befan­gen. Ein­zig Hoff­nung vers­pricht der Über­druss „am fal­schen Genuss, dem Wider­willen gegens Ange­bot, der Ahnung von der Unzulän­gli­ch­keit des Glücks“.
Das Objekt­wer­den der Arbeits­kraft in der Tau­sch­ge­sell­schaft voll­zieht sich auch an der Seele. Deren Auf­tei­lung in Fähig­kei­ten, Cha­rak­te­rei­gen­schaf­ten und Persön­li­ch­keit stellt die Psy­cho­lo­gie unmit­tel­bar in den Auf­trag der Waren­hers­tel­lung und Ver­wal­tung. Als Psy­cho­tech­nik verübt sie noch­mals an der Seele was die Maschine nach Marx schon am Kör­per ver­wirk­lichte : Besei­ti­gung jeder mögli­chen Erfah­rung durch res­t­lose Objek­ti­vie­rung. Wie­de­rhers­tel­lung der Genussfä­hig­keit, Freude am Schund­film und Cham­pa­gner­fröh­li­ch­keit ste­hen für Ador­no als ein Stahl­bad, das meist noch die Flucht in die Kran­kheit ver­bie­tet.
Im Symp­tom tut sich jedoch zur glei­chen Zeit eine nicht von Kul­tu­rin­dus­trie und Psy­cho­lo­gie ver­mit­telte Sinn­li­ch­keit kund. Das Ver­drängte birgt, nach Ador­no, die Mögli­ch­keit einer Sinn­li­ch­keit die noch nicht vom Markt oder der ers­ti­cken­den ‘Fun’-Moral aus­ge­merzt wurde. Diese zeigt sich nicht auf den großen Pfa­den, son­dern im kleins­ten Detail, in der schein­bar unauffäl­lig­sten Nebensä­chli­ch­keit. Auch hier greift Ador­no wie­der ein theo­lo­gisches Motiv von Ben­ja­min auf : „jede Sekunde [war] die kleine Pforte, durch die der Mes­sias tre­ten konnte“.
Eine andere Psy­cho­lo­gie, eine Psy­cho­lo­gie der Erfah­rung deu­tet sich an : „[…] die Reihe der Bege­ben­hei­ten im Leben ist eine Sack­gasse, so breit und gang­bar sie auch scheint. Die schma­len, ver­bor­ge­nen Steige sind’s, die in die ver­lo­rene Hei­mat zurückfüh­ren : das, was mit fei­ner, kaum sicht­ba­rer Schrift in unse­ren Kör­per ein­gra­viert ist, und nicht die scheuß­liche Narbe, die die Ras­pel des äuße­ren Lebens hin­terlässt, birgt die Lösung der let­zen Geheim­nisse.“ (Gus­tav Mey­rink, Der Golem) Damit stel­len sich die Nega­tive Dia­lek­tik und die Ästhe­tische Theo­rie in die unmit­tel­bare Nähe der Psy­cho­ana­lyse als Erfahrung.

Biblio­gra­phie
Ador­no Haupt­werke :
Theo­dor W. Ador­no, Mini­ma Mora­lia, Fank­furt, Suhr­kamp, 1951, 1988.
Theo­dor W. Ador­no, Nega­tive Dia­lek­tik, Fank­furt, Suhr­kamp, 1966, 1990.
Theo­dor W. Ador­no, Ästhe­tische Theo­rie, Fank­furt, Suhr­kamp, 1970, 1989.

Neuer­schei­nun­gen zum 1oo. Geburts­tag :
Theo­dor W. Ador­no, Vor­le­sung über Nega­tive Dia­lek­tik, Frank­furt, Suhr­kamp, 2003.
Theo­dor W. Ador­no, Briefe an die Eltern, Frank­furt, Suhr­kamp, 2003.
Theo­dor W. Ador­no, Max Hor­khei­mer, Brief­wech­sel, Band I : 1927 – 1937, Frank­furt, Suhr­kamp, 2003.